Text: Hans-Christian Dany
Zwölf

Ein Schuldenschnitt wird gesetzt, wenn die Gläubiger zur Einsicht kommen, die Lage des Schuldners sei aussichtslos. Lebt der Schuldner jedoch über die liquiden Mittel und schont seine Vermögenswerte, ist ein Schuldenschnitt unangebracht. In diesem Moment schneide ich mir in die Haut. Meine Unachtsamkeit rinnt als Blutstropfen am Hals herunter. Da die Rasur schlecht begonnen hat, wasche ich mir die Seife aus dem Gesicht und gehe zu Class-Cut, meinem Friseursalon auf der Großen Bergstraße. Während ich warte, an die Reihe zu kommen, lese ich in Die Kunst, seine Schulden zu zahlen, ein Portrait, in dem Honoré de Balzac seinen Onkel als einen begnadeten, ziemlich charmanten Schuldenmacher zeichnet. Der Neffe unterstreicht anhand des Onkels einen wesentlichen Unterschied: “Schulden machen bei Leuten, die selbst nicht genug haben, heißt, die Verwirrung der Gesellschaft nur zu vergrößern und das Unglück zu vervielfältigen. Leuten aber, die zu viel haben, Geld schuldig zu sein, bedeutet im Gegenteil: für das Elend ein Gleichgewicht schaffen und seinen Teil zur Nivellierung beitragen.”

Dem Ausgleich der Unterschiede dienen Schulden in der Klassengesellschaft eher selten, unbezahlt bleiben meist die “Produzierenden”, während die “Konsumierenden” bezahlt werden. Es gibt mehr unbezahlte Löhne als ausstehende Mieten.

Der Friseur fegt die Haare des Vorgängers zusammen und winkt mich auf den Stuhl. Während ich die Wunde im Spiegel betrachte, ärgere ich mich, nicht besser aufgepasst zu haben. Hatte ich nicht schon am Anfang dieses Textes geahnt: Das Spielfeld hieß Kunst. Auf ihm fängt vieles lustig an, hört der Spaß aber meistens irgendwann auf und plötzlich sehen sich alle Mitspielenden streng an.

Aber hat der Spaß überhaupt aufgehört?

Heute schreibe ich nach über einem Jahr den letzten von zwölf vereinbarten Teilen und bin froh, wohin mich die Mutter Ey Press(e) gebracht hat. Mein Text ist spät. Ich zögere die Abgabe hinaus. Das Ende scheint unmöglich, die Reise weit entfernt von ihrer Ankunft. Und genau genommen möchte ich nicht, dass es vorbei ist.

Wenn es sich bei dieser Reise durch die Sprache um eine Annäherung an mein Gewordensein handeln sollte, war sie hoffentlich ein Spiegelbild für manche.

Nachdem ich rasiert worden bin und den Salon wie neugeboren auf die Straße verlasse, verwandelte mich ein Kind in einen anderen, als es fragte: “Bist du Hitman?” Ich kannte meinen Doppelgänger bisher nicht. Der Held des zum Klassiker gewordenen Computerspiels sieht mir aber tatsächlich ähnlich, ein kahles Ei mit fleischigen Zügen. Die in einem Genlabor geborene Figur wurde entwickelt, um emotionslos und zielgerichtet zu töten. Würde ich meinen Speck in Muskeln umwandeln und einen schwarzen Anzug tragen, wäre meine Erscheinung perfekt. Hitman steht für eine Askese der Mittel. Ein Mord mit einem Golfschläger bringt ihm mehr Punkte, als das Töten mit einer Schnellfeuerwaffe. Die reine Handarbeit ist seine Kür.

In diesem Moment erreicht mich eine Videonachricht meines Sohnes. Im Bild wandeln Männer in seidenen Kaftanen durch holzgetäfelte Räume, die Kamerafahrt des vor dem Bauch getragenen Telefons gefriert vor einem vollen Kühlschrank zum Standbild. Ich frage: “Warum bist du in der Business Lounge mit deinem 300 Euro Ticket?" Er antwortet: "Die Business Lounge ist nur eine Frage, wie man reinkommt.”

Wie sollte ich ihm da widersprechen?

Welche Kritik greift noch in eine Gegenwart, in der es vor allem darum geht, die Durchgänge zu finden? Oder wie sollte ich Maku so etwas wie Institutionskritik erklären, jene Kritik, mit der in der Kunst die Bedingungen der Produktion und Distribution kritisiert werden, wofür die kritischen Stimmen meist von der Institution selbst bezahlt werden? Vielleicht mit dem Bild der Narren, die, um die bestehenden Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten, das Unbehagen stellvertretend aussprechen.

Habe ich mich wie ein Narr benommen?

Das Kind, das mich für Hitman hält, folgt mir bis zum Ende der Fußgängerzone. Auf meinem Telefon erscheint jetzt überraschend ein Zahlungsavis. Zwei Tage später bestätigt der Bankomat einen Geldeingang aus der Mutter Ey-Straße. Ich bin erleichtert, die Schieflage belastete mich und bin froh, dass sich der Knoten mit meinen Mitteln, der Sprache, lösen ließ. Zumindest bilde ich mir das ein.

Da ich nicht so gut darin bin, mich über meine Erfolge zu freuen, versuchte ich dem Vorgang, einen Körper zu geben, indem ich mir das Geld in kleinen Scheinen auszahlen lasse. Die Postbank hat den Automaten aber darauf getrimmt, mich an einer kurzen Leine zu halten. Die Maschine zahlt nicht aus, da der Betrag mein Limit übersteigt. Ich muss an den Schalter. Die Dame kennt mich seit vielen Jahren. Sie entschuldigt sich, mich nach meinen Personalausweis fragen zu müssen, da ihr Arbeitsplatz videoüberwacht wird und sie keine Ausnahmen machen darf. Als ich meinen Personalausweis unter der Hülle meines Handys hervorziehe, steht das Kind wieder neben mir und sagt: “Er ist Hitman.” Die Frau hinter dem Schalter schüttelt den Kopf, sie kenne mich doch. Um die Überwachungskameras zu beruhigen, erkläre ich: “Hitman ist mein Doppelgänger."

Kurz danach stehe ich mit einem dicken Bündel brauner Scheine auf der Großen Bergstraße. Da hier alles für Geringverdiener angelegt ist, würde es zu lange dauern, den Betrag um die Ecke zu bringen. Ich gehe zum Taxistand am Bahnhof und steige in den ersten Wagen. Er fährt mich zum Rathausmarkt, wo sich das französische Restaurant befindet, jenes, in dem ich die Nachricht vom Tod meines Bruders erhielt. Der Platz am Fenster ist frei und ich bestelle “grüne Austern vor getrüffelten Rebhühnern”.

Nach einer Weile bringt der Kellner das Gericht, obwohl es gar nicht auf der Karte steht. Hatte der Koch das Zitat aus Die Kunst, seine Schulden zu zahlen, erkannt? Es schmeckt und nach dem Käse freue ich mich auf die Rechnung. Auf dem Beleg steht nur Null Komma Null. Der Oberkellner hatte darunter in geschwungenen Buchstaben geschrieben: “Schön, dass Sie da waren und uns an dieses Gericht erinnert haben”. Ich schiebe einen Fünfziger in das Couvert und verlasse das Lokal. Kurz verharre ich vor dem benachbarten Foyer, in dem ein zum Kreis gebogenes Neon auf Lateinisch den Satz schreibt, der auf deutsch ungefähr lauten würde: “Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verschlungen.” Der Titel eines Films von Guy Debord wirbt für einen Immobilienentwickler, der in dem Gebäude sein Büro hat. Ich habe hier schon oft gestanden. Wahrscheinlich wohne ich in dieser Stadt, um immer wieder an den gleichen Stellen zu stehen. Die Wiederholung beruhigt mich.

Jetzt gehe ich durch eine kurze Sackgasse und weiter über die Mönckebergstraße zum Jungfernstieg. Da ich meistens schnell gehe, verstehe ich nicht, warum ich so langsam schreibe und ständig alles durchstreiche. Am unteren Ende des Jungfernstiegs betrete ich den Hamburger Hof und nehme die Rolltreppe. Die Damen in der Parfümerie verstehen sofort, was ich meine, als ich erkläre, ein Kind würde mich mit Hitman verwechseln, der ich gar nicht bin, aber ich würde gerne so riechen. Sie schlagen Vetiver Java aus Monte Carlo vor. Die Performance des Dufts beginnt mit einem Paukenschlag und bleibt danach lange stabil. Die Dame sagt mehrmals, wie gerade angezündetes Lagerfeuer. Dann sprechen wir noch kurz über Garage von Rei Kawakubo.

Anschließend wandle ich mit meinem neuen Geruch durch die Colonnaden. Bei Pfeifen Timm schaue ich kurz in die Auslage und denke an meinen Vater, der dort immer seinen Tabak kaufte. Anschließend gehe ich an dem Haus vorbei, in dem mein Versuch einer Therapie scheiterte. Kurz vor dem Kollaps fiel der Satz: Hanno Buddenbrook fährt Mustang durch Lübeck. Der Therapeut meinte, das wäre zumindest sexy. Da schluckte ich das erste Mal. Anschließend erklärte er mir mit einer Mischung aus mitleidig-genervten Blick eines Automonteurs, der dem Kunden erklärt, was mit dem Motor passiert sei, da jahrelang nicht das Öl gewechselt wurde und jetzt nichts mehr zu machen sei: Die Methoden einer Psychotherapie würden bei meinem Grad der Verstörung nicht mehr greifen. Ich könnte eine Analyse versuchen, er würde mir aber davon abraten, der Aufwand sei groß und ich komme doch irgendwie zurecht. Ich ging zu keinem Analytiker, kam weiterhin irgendwie zurecht.

Meine Schritte führten mich jetzt weiter zum Stephansplatz, wo ich das Spielcasino betrat. Der Plan war klar und einfach, ich würde die 76 verbliebenen Fünfziger mechanisch auf die Acht setzen, bis das Geld weg war.

Am Anfang verliere ich, bis sich der Kessel gegen mein Vorhaben wendet. Dreimal fällt die Kugel in schneller Folge auf die Acht. Jetzt sitze ich hinter einem Riesenhaufen Jetons. Stunde um Stunde spiele ich weiter, aber es wird nicht weniger. Leute kommen und gehen, während ich meistens verliere und manchmal gewinne. Aber ich spiele auf Zahl. Als das Spielcasino um vier Uhr schließt und ich mir die Jetons auszahlen lasse, ist das Bündel in meiner Hand größer als beim Eintritt.

Am nächsten Morgen betrachte ich den Stapel, der zwischen den Socken des letzten Tages auf dem Boden liegt. Meine Finger zählen die Scheine. Es sind jetzt über 5000 Euro. Ich fühle mich wie im Märchen vom Brei. Wo Geld ist, kommt noch mehr Geld. Irgendwann würde die ganze Wohnung verstopft sein. Ich bekomme Platzangst und denke, die Scheine müssen weg.

Auch Jan wollte, dass das Geld verschwindet. Bevor er sich einweisen ließ, gab er noch viel Geld für Barbour Jacken aus. Er hängte die Jacken in einem komplizierten System in seiner Wohnung auf, damit die Viren nicht von der einen Jacke auf die andere überspringen konnten.

Die Barbourjacke, die ich mir nach seinem Tod kaufte, habe ich bis heute nicht getragen. Um mich zu beruhigen, schiebe ich den Geldstapel ins Bücherregal. Da wirkt es zumindest ein bisschen verschwunden.

Ich bin nicht so gut darin, einen Ausgang zu finden. Und wenn ich mal denke, durch diesen Flur komme ich aus dem Labyrinth, kam ein neuer Einschlag.

Seit einigen Wochen gibt es einen anderen Grund, mein Gewordensein aufzuschreiben. Meine Mutter hat begonnen, ganz viele Bilder und Dinge, die unsere Geschichte erzählen, in den Abfall zu werfen. Sie sagt, sie wolle nichts hinterlassen, was mich belastet. Manchmal, wenn sie schläft, sortiere ich aus dem Mülleimer Fotos, die zwischen den Essensresten noch nicht zu verklebt sind. Ein Onkel fragte mich gestern, als ich ihm das Foto eines dieser Fotos schickte: “Was ist die Botschaft?” Ich habe keine Botschaft. Vielleicht ist es ein Versuch, zu verstehen. Mein Versuch, zu einer Haltung zu kommen, war lange Zeit eine Reihe von Auslöschungen. Nicht nur die anderen verwischten die Spuren, ich dachte auch, alles muss weg, damit ich leben kann. Oft habe ich das nicht einmal gedacht, es ergab sich einfach so und ich war einfach nur ein Kind meiner Zeit. Jetzt fühlt es sich anders an. Vielleicht liegt es am Alter oder aber an einer Gegenwart des Zerfalls. In ihr habe ich angefangen, eine Art Chronik meiner Familie zu schreiben. Sollte ich mit dem Geld, das sich gestern vermehrte wie im Märchen vom Brei, heute Abend wieder ins Casino gehen, damit ich diese Geschichte weiterschreiben kann? Das wäre zumindest ein gewisser Mut zur Peinlichkeit, da es mir immer peinlich war und ist, Geld zu haben, selbst, wenn ich es redlich verdient habe. Um meine Unschuld als armer Schlucker zu beweisen, ging ich jahrelang in Schutt und Asche. Wenn ich einmal etwas anzog, was neu war oder nach Geld aussah, band ich allen unter die Nase, egal, ob sie es hören wollten, es sei ein Schnäppchen aus dem Ausverkauf. Jetzt würde alles anders werden. Statt das Geld in einen 500 Euro Schein zu wechseln, den ich wie mein Vater diskret im Portemonnaie mit mir herum trug, um immer potentiell einen drauf machen zu können, entschied ich mich, ab sofort einen dicken Packen Fünfziger in der Hosentasche zu tragen, mit dem ich alles bezahlen würde. Für jedes Kaugummi würde ich die Scheine rausholen und erstmal ausführlich glattstreichen. Es wäre ein Neuanfang mit dem Geld, nachdem wir jahrelang eine kranke Beziehung führten.

Geld ist eine mögliche Sprache, um an etwas heranzukommen, was ich haben will. Ich bekomme damit zwar nicht alles, aber erstaunlich viel. Um mich nach den Wünschen zu strecken, müsste ich sie kennen. Zu meinem Verlangen habe ich aber auch ein gestörtes Verhältnis. In diesem Moment ruft Maku aus der Bar des Ritz Carlton in Kairo an. Er ist traurig, da die Zimmer dort für ihn zu teuer sind und er sich nur einen Drink in der Bar leisten kann. Er weiss, was er möchte. Ganz verzogen habe ich ihn nicht.

Mein Sohn reist seit Jahren um die Welt, um Bauwerke zu begutachten. Er landet in Ruinen oder im Ritz. Sucht er nach Gebäuden, da er mit mir in einer Wohnung aufwachsen musste, die nichts Wohnliches hatte? Das Heimelige ist mir unheimlich, darum konnte ich keine Wohnung einrichten. Seit er mir regelmäßig Fotos von Gebäuden schickt, denke ich mehr über sie nach.

Das Haus, in dem sich die Mutter-Ey-Press(e) befindet, beinhaltet die Idee, Arbeit und Leben unter einem Dach zu vereinen. Es ist eines der wenigen Galeriehäuser, in denen der Händler über den Ausstellungsräumen wohnt. Das Konzept erinnert an den Ursprung des Wortes Ökonomie im griechischen “Oikos”, Haus und Haushaltung, den Umgang mit den Ressourcen in einem Gebäude.

Während ich an das Schmela Haus denke, besichtige ich ein anderes Haus. Sein Besitzer empfängt mich in einem langen grünen Flur aus Blättern. Streng zielen die Hecken an beiden Seiten auf eine verschlossene Tür. Der Gastgeber zieht mich nach links durch eine Art Tapetentür in den Blättern. Wir stehen jetzt auf einem zweiten Vorhof. Die Fassade zeichnet ein symmetrisches Raster. Zweimal vier Fenster. Sie erinnert an Preußen und Schinkel, aber auch an das Wittgenstein Haus oder das Bauhaus, obwohl das Haus ohne Eigenschaften, wie es genannt wird, das Gegenteil formuliert: Das tägliche Leben soll hier unsichtbar bleiben. Schindlers Begriff des Ausräumens wird darin nochmal weitergedreht. Der Mann mit einer Besessenheit für Bücher, der das Gebäude von der Witwe des Architekten gekauft hat, nutzt es heute als Depot für kostbare Erstausgaben, die hinter Gittern wie im Gefängnis sitzen.

Zwei Stunden bin ich das Publikum in dieser doppelten Bereinigung des gelebten Lebens und in der eine beeindruckende Bibliothek anstelle von Menschen wohnt. Es ist seinem Lebenswerk, der Sammlung der Bücher, in einem Lebenswerk, die Suche nach dem idealen Haus. Das Ideal baut die Übersetzung einer elitären Vorstellung, die sich, statt der Niederungen des gewöhnlichen Lebens, wie Kochen, dem Ausscheiden der Nahrung oder der Reinigung des Körpers, Aufmerksamkeit zu widmen, allein auf das Höherstehende zu konzentrieren versucht. Es ist eine Antipode zur Frankfurter Küche, gebaut am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts im Niedergang des Rheinischen Kapitalismus. Durch die Performance des heutigen Besitzers wird mir bewusst, wie wichtig vielen Kriegskindern das Lebenswerk war. Für manche war das große Vorhaben wohl die Möglichkeit, mit ihrer Befangenheit zurechtzukommen.

40 Stunden später. Vorsichtig, fahre ich über das im Dunkel liegende Gelände des Krankenhauses. Es dauert, bis ich den richtigen Eingang finde. Die Akutambulanz hat eine weiße Tür ohne Klinke. Als ich auf die Klingel drücke, öffnet sie sich nicht. Es kommt nur eine Stimme durch die Gegensprechanlage. Nachdem ich mich erklärt hatte, hieß es, ich sollte draußen warten. Ich bin besorgt, da ich ihr versprochen habe, sofort zu ihr kommen. Nervös wartete ich auf einer Stuhlreihe. An drei der fünf Stühlen klebten A4 Blätter, auf denen Defekt stand. Kaum etwas in diesem Foyer war nicht kaputt. Verhuschte Gestalten schlendern vorbei, Schlaflose, die im Garten rauchen. Es ist schon nach Eins, als sich die Tür der Akutambulanz öffnet. Zwei Teenager in Begleitung ihrer Mutter, die nicht bleiben darf. Danach dauerte es eine Weile, bis ein Mann die Tür öffnete. Der Kahlgeschorene in einer schwarzen Jeansjacke kam direkt auf mich zu. Als er sich auf einen der defekten Stühle neben mich setzen wollte, sagte ich: “Vorsicht!” Er schlug vor, dass wir in einen Nebenraum gehen. Dort versuchte er, das Licht einzuschalten. Der erste Schalter reagierte nicht, um den zweiten war es nicht besser bestellt, der dritte Schalter entzündete eine zitternde Funzel. Ich sagte, dass Halbdunkel würde mich nicht stören, es sei doch mitten in der Nacht. Wir sind beide sehr müde. Zuerst erklärte er, keine Zeit zu haben. Vielleicht liege es am Wetter, dass alle Kollegen krank wären, außer ihm sei niemand da. Seine Diagnose klang nachvollziehbar. Er müsste sie hier behalten, habe aber kein Bett und könne auch keines “backen”. Er sagt, er hole sie jetzt, da ich nicht in die Geschlossene hinein dürfe. Ich hole den Wagen. Während ich wieder vor der Tür warte, musste ich lachen: Der Psychiater als Bäcker, der aus Teig Betten formt. Dann kommen die beiden heraus. Gegen zwei Uhr verlassen wir das Gelände des Krankenhauses und fahren durch die Nacht zu ihrem Haus.

Sich in Modellen zu bewegen, kann eine Möglichkeit sein, um zu überleben.

In diesem Moment sagt eine Stimme: Hitman has left the building.

Die Geschichte ist nicht zu Ende.

Text: Hans-Christian Dany
Elf

Vor zwei Jahren schenkte ich meinem Sohn Faserland. Ich hatte gehofft, die Erzählung würde ihm gefallen, aber nicht erwartet, wie sie ihn abholen sollte. Er las gleich das nächste Buch von Kracht und baute von dort eine Brücke in sein Leben, indem er begann, die Reisebeschreibungen aus Der gelbe Bleistift nachzufahren. Gestern erreichte mich eine Sprachnachricht aus einem Zug in Sri Lanka: “Papi, es tut mir sehr leid, dass ich so lange nicht erreichbar war, aber wir waren auf einer Reise durch das halbe Land und dann hatten wir einen Polizeiaufenthalt und dann wurden wir fast umgebracht, aber ich hoffe, du hattest einen schönen Vatertag.” Während ich lachte, musste ich denken, mein Vater kommt in diesem Text zu schlecht weg und dass ich ihn in ein besseres Licht rücken wollte. Mir fiel einiges ein. Er konnte ziemlich witzig sein und war ausgesprochen großzügig mit anderen. Oft half er anderen. Das war für ihn sehr selbstverständlich und er tat es sicher nicht, da er ein schlechtes Gewissen wegen seines Brüllens hatte. Die Anfälle passierten ihm, wie es bei Cholerikern so ist. Er scherte sich nicht, ob er Ansichten vertrat, die als skurril empfunden wurden. Auch vermittelte er mir Werte. Einer hieß Eleganz, da versagte ich, ein anderer war Treue. Sie wirkte schwierig im Land des Nibelungenliedes. Auch erinnere ich aus der Kindheit die Furcht, das familiäre Lob der Treue könnte sich als Täuschung entpuppen.

Meine Eltern hatten sich als Teenager auf der Eisbahn kennengelernt, verloren sich aber wieder aus den Augen. Ihre zweite Begegnung in einem Strandbad ganz im Norden von Deutschland wurde von meiner Mutter bei jeder möglichen Gelegenheit geschildert. Die Cousine hatte ihr erklärt, es wäre von Vorteil, wenn sie auf der Promenade Englisch sprechen, da Männer das anziehend finden. Etwas später kam mein Vater ins Spiel. Die beiden heirateten Mitte zwanzig, er sollte zuerst seine Ausbildung abschließen und eine Anstellung haben. Ein Jahr später kam ich auf die Welt. 1968 kauften sie das Reihenhaus am Rande von Hamburg, in dem meine Mutter bis heute lebt. Mein Vater betonte oft stolz, in all den Jahren ihrer Ehe, es sollten über fünfzig werden, jeden Abend in dieses Haus zurückgekehrt zu sein. Ich vermute, er war nicht ganz so treu, wie er es darstellte, aber relativ treu. Der Partnertausch gehörte im Freundeskreis meiner Eltern nach der sexuellen Revolution in den Siebzigern zu den Formen von Fortschritt, die ausprobiert wurden, wie Fernsehen in Farbe. Der beste Freund führte, um die Übersicht zu behalten, ein Buch über die Frauen, mit denen er schlief. Mein Vater äußerte sich mehrmals empört über den Umfang dieser Memoiren.

Als Kind verstand ich lange Zeit nicht wirklich, wie die Eltern es miteinander ausgehalten haben. So lange ich mich erinnern kann, hielt ich für meine Aufgabe, bei dem, was ich als den Egoismus meines Vaters und die Opferrolle meiner Mutter wahrnahm, ausgleichend aufzutreten. Erst nach Jahrzehnten verstand ich: Was meine Eltern verband, war eine ganz genaue, beinahe zwanghafte Vorstellung davon, wie die Welt auszusehen hat. Abweichungen vom eigenen Bild wurden nur unter Anstrengungen ertragen. Vieles von dem, was in ihrer Burg so zu sein hatte, betraf die Oberflächen, während die Vertiefung, besonders der Gefühle, als Türöffner zum Ärger galt.

Mittlerweile kann ich dieser Erziehung zum äußeren Auftreten einiges abgewinnen. Wäre ich nicht auf den Anschein und das Formale getrimmt, wäre ich vielleicht ein schrecklicher Grübler geworden. Die Aufmerksamkeit dafür, wie sich etwas zeigt, brachte mich auch in die zeitgenössische Kunst. Ihr Umgang mit der Anmutung ist in Gefahr, wie eine Vase am Rande des Tisches, die im nächsten Moment fallen könnte. Da alles gefährdet bleibt, wird manches aus dem Nichts ganz groß und verliert genauso schnell seine Bedeutung. Genauer gesagt, schiebt es sich aus Aufmerksamkeit, da Bedeutungen in der Kunst eine nachgeordnete Rolle spielen und es eine Faszination für das Unbedeutende wie Bedeutungslose gibt. Mich ziehen diese Blasen bis heute an, da sie eine Wirklichkeit neben der Wirklichkeit bilden. Die Schwerkraft einer gesicherten Normalität holt die instabilen Situationen nicht selten in Form des Geldes ab. Eine der Herausforderungen, die Spannung des Prekären zu wahren, aber auch auszuhalten, liegt darin, die Schwerkraft des Geldes temporär zu verleugnen.

Gerade holt mich die profane Wirklichkeit des Monetären aber ein und der Fluss Worte gerät ins Stocken. Um die Bremsung zu verstehen, lasse ich alles Revue passieren. Bis zu dem Anruf hatte ich ihn kaum gekannt. Im Kunstbetrieb, einem Dorf mit vielen Durchreisenden, waren wir uns mehrmals begegnet und haben miteinander gesprochen. Ich dachte, er ähnelt meiner Mutter ein wenig in ihrer förmlichen Art. Auch der starke Bezug auf sich selbst zeichnete sich in den ersten Begegnungen ab. Jede seiner Bewegungen analysierte er auf den Eindruck, den sie hinterlassen könnte. Das ist im Kunstbetrieb nichts Ungewöhnliches, wirkt dieser doch wie ein Wald, in dem alle Bäume in einer bestimmten Art gesehen werden wollen. Einige sind damit noch mehr befasst, als andere. Manchmal denke ich, das Gedränge ist geeigneter für jene, die mit dem Gefühl groß wurden, für jedes Bäuerchen, was ihnen entsteigt, bejubelt zu werden. Für jene, die nicht wissen, ob sie überhaupt gesehen werden, kann es hingegen anstrengend werden. Aber stimmt das überhaupt? Leiden nicht gerade die vom Blick Verwöhnten schon beim geringsten Entzug, während jene, die es gewohnt sind, dass kaum nach ihnen geschaut wird, nicht die Ruhe verlieren, wenn der Blick mal ausbleibt.

Vielleicht hätte ich auf manches mehr achten sollen, aber die Möglichkeit interessierte mich, da sie vielversprechend klang und sicher war meine Eitelkeit geschmeichelt, gefragt zu werden. Dass ich mich entschieden habe, es zu tun, bereue ich nicht im Geringsten, es war ein Glücksfall und der Anstoß, über Schuld und Schulden zu schreiben. Bald fiel mir auf, wie verwandt Inhalt und Mittel einander sind, da die Sprache ein Gewebe aus Forderungen und Verbindlichkeiten bildet. In manchen Momenten erscheint mir der Text auch als Gläubiger, in dessen Schuld ich stehe. Schreiben hat in einer Sprache, die ich nur auf Kredit bekomme, den Charakter einer Geschäftsbeziehung. Sie findet in einer anderen Währung statt, die aber gegen Geld getauscht werden kann.

Er sprach bereits im ersten Gespräch davon, dass ich bezahlt werden sollte. Wie viel ich bekommen sollte, erfuhr ich erst Wochen später auf Nachfrage. Es klingt kleinlich, das anzumerken, doch wenn man freiberuflich schreibt, ist es bei vierzig und mehr Anfragen im Jahr nicht angenehm, immer wieder nach der Bezahlung fragen zu müssen. Angestellte würden die Höhe ihres Lohnes auch nicht alle vierzehn Tage aushandeln wollen. Diesmal sollten es je Euro 500 für zwölf Texte sein. Das klang für das Schreiben in der Kunst gut, auch wenn mir klar war, so wie ich schrieb, würde ich unter dem gesetzlichen Mindestlohn bleiben. Die Nachkalkulation bestätigte später meine Überschlagsrechnung. Was ich bisher geschrieben habe, kommt auf knapp 100 Manuskriptseiten. Das heißt, ich hätte Euro 50 pro Seite erhalten. Nach dem Thomas Mann-Ansatz wird eine Seite pro Tag geschrieben, geteilt durch acht Stunden komme ich auf Euro 6,25 pro Stunde. 

Am Honorar möchte ich nichts beanstanden. In diesem Fall hatte ich neben der Wahl der Inhalte auch das Angebot, nur ein Wort pro Folge zu schreiben, womit mir sogar freigestellt war, einfach nur ein schnelles Geschäft zu machen. Die Übererfüllung, die ich stattdessen wählte, war meine Entscheidung. Das Szenario erschien als großes Versprechen. Heiter begann ich zu schreiben, wenn auch dunkles Zeug. Warum der Text in die Dunkelheit fuhr, weiß ich nicht so genau. Es ergab sich. Und während der Zug der Worte durch den Tunnel schlich, nahm ich an, er oder eine seiner Mitarbeiterinnen würde mich auf den Modus der Bezahlung ansprechen. Nichts geschah. Es fiel mir zuerst gar nicht auf, da ich beschäftigt war. Wer schreibt, liefert sich aus und wird verletzlich. Etwas ungeschützt saß ich nach drei Monaten da, aber ich hatte mich für den Mut zur Peinlichkeit entschieden, ohne dass jemand es von mir verlangt hätte. Und noch für etwas anderes konnte ich niemand anders zur Verantwortung ziehen, außer die Hypothek der Familie.

In den vierunddreißig Jahren, in denen ich mal mehr, mal weniger Texte veröffentliche, habe ich kein stabiles Selbstbewusstsein zu meinem Tun gefunden. Wenn ich mal dachte, da hast du was richtig Gutes geschrieben, entpuppte es sich als lauer Aufguss oder manchmal als mieser Text. Gab ich hingegen aufgrund von Zeitdruck, Faulheit oder was auch immer beschämt etwas ab, das mir ziemlich ungenügend erschien, handelte es sich gelegentlich genau um jene Texte, die anderen besonders hilfreich erschienen. Manchmal beneide ich jene Professionellen, von denen ich mir vorstelle, sie wüssten genau, was sie tun. Letztlich suche ich aber die Verunsicherung, sie gehört zum Spiel, wie der harte Hocker in einem Raum, der etwas zu kühl ist, damit es nicht zu gemütlich wird. Das mag protestantisch klingen und kommt sicher zum Teil von dort, hat sich aber bewährt. Jetzt wurde die Unsicherheit aber zum Problem. Ich fragte mich, ob das, was ich geschrieben hatte, so mies wäre, dass man mich nicht bezahlen konnte? Als nach fünf Monaten aufgrund der ausbleibenden Zahlung das Loch in der Haushaltskasse größer wurde, sonstige Kosten fielen nicht, fasste ich mir ein Herz und schrieb eine Email, um zu fragen, wie es eigentlich mit meiner Bezahlung aussehen würde. Keine Antwort. Zweieinhalb Wochen später rief ich an und fragte, ob er meine Nachricht nicht bekommen hätte? Nein, er hätte nichts erhalten. Ich dachte, wie selten Nachrichten verloren gehen, aber manche tun es vielleicht doch.

Nach dem Telefonat schickte mir die Mitarbeiterin in der Vorweihnachtszeit eine Vorlage, mit der ich Rechnungen stellen konnte, was ich tat. Da er mir im Verlauf des Telefonats einen aktuellen Liquiditätsengpass geschildert hatte, räumte ich ihm einen Monat Zeit ein.

Als der Verstrichen war und ich einen weiteren gewartet hatte, fragte ich, da nichts passierte, also kein Geldeingang sichtbar wurde, wiederum nach. Von der Mitarbeiterin wurde mir mitgeteilt, der Chef sei längere Zeit auf Reisen, gerade auf einer Messe in Los Angeles und anschließend auf der in Madrid. Das klemmende Geld reichte also noch für hochpreisige Handelsplätze, die im Voraus Bezahlung verlangen. Nun konnte ich mir denken, ein Unternehmer muss investieren und über seine Verhältnisse leben, das kannte ich von zuhause. Ging das Geld aus, holte man sich schnell einen Maßanzug, damit es weitergeht. Die Kundschaft achtet auf den prosperierenden Auftritt.

Mittlerweile kamen mir Gerüchte über die “professionelle Unzuverlässigkeit” zu Ohren gekommen. Nun wird viel geredet, wenn der Tag lang ist. “Professionalität” interessiert mich auch nicht so sehr, da es mir oft wie ein anderes Wort für abgeklärte Langeweile ist. Das Geld war nur ein Aspekt. Wichtiger schien, das Ganze hatte mich in ein Schreibabenteuer gestürzt, das seine eigenen Forderungen und Verbindlichkeiten mit sich brachte. Ich stand im Soll des Textes und wollte wegen des schnöden Habens von Liquidität die Reise nicht abbrechen. Schreiben beinhaltet, sich zu verausgaben, wenn ich da rechne, entfällt das Abenteuer, Sätze zu schreiben, die ich nicht erwarte. Obwohl ich auf den Text setzte, wurde der innere Dialog mit dem monetären Schuldner langsam lauter. Mal dachte ich, er verdient ja kein Geld mit mir, meine Texte sind doch gerade mal kulturelles Kapital, da gibt es in klammen Zeiten andere Prioritäten. Dann entwickelte ich Anwandlungen wie mein Vater, der kein Restaurant besuchen konnte, ohne die Gehälter des Personals, mit der geschätzten Miete der Lokalität zu addieren, um die durch den Einkauf ergänzten Betriebskosten gegen den überschlagenen Umsatz zu stellen, um zu bestimmen, das rechnet sich oder eben nicht. Mir ist es bis heute nicht gelungen, diese Prägung zum Pfeffersack und jener hanseatischen Welt abzulegen, in der Multimillionäre ihre Wollpullover bis zum letzten Mottenloch tragen, damit sie sich vorstellen können, wie aus den länger abgeschriebenen Pullovern über Jahrhunderte ein Frachtschiff wird. Da ich mehr Donald als Dagobert bin, dachte ich: Meine Miete habe ich immer pünktlich bezahlt, also kann ich sie jetzt mal aussetzen. Mein Vermieter sah das anders. So kam ich nicht weiter. Die Monate verstrichen, schreibend erhöhte ich die Forderungen und es wurde Frühling. Als nach der Abgabe von Teil 9 noch kein Cent bei mir angekommen war, erhielt ich einen Newsletter, der Garten der Galerie sei gerade von meiner Lieblingsgartenkünstlerin neu gestaltet worden. Postwendend fragte ich nach, was mit meinen Rechnungen sei. Er antwortete innerhalb von Sekunden, nichts sei, wie es schiene, die finanzielle Lage der Galerie bliebe angespannt und fügte hinzu: Ich sollte auf keinen Fall denken, er wolle mich für dumm verkaufen. Wieder ging es darum, wie er gesehen wurde und nicht um meine Miete. Die Nachricht endete damit, er könnte jetzt tausend Euro bezahlen, was er auch tat, obwohl ich geantwortet hatte, ein Abschlag interessiere mich nicht. Die angefügte Zusage, den Rest an offenen Rechnungen bis Ende des Monats zu überweisen, zerschlug sich anscheinend, jedenfalls floss kein weiteres Geld. Freunde von mir erhielten in der gleichen Woche Einladungen zu einem Abendessen der Galerie in einem coolen Club. Ich wurde nicht eingeladen. Da mich Essen nun wirklich interessiert, begann die Angelegenheit an mir zu nagen. Die Stimmung kippte, aber was tun?

Als ich mir eine Ausstellung in der Galerie ansah, taten wir so, als ob nichts sei. Man ist höflich und oft steht doch gerade jemand daneben. Im Kunstbetrieb sind alle nicht nur beim Du, sondern sowieso best friends. Er war nicht meiner, doch wer haut schon gerne auf den Tisch im Wissen um die Probleme des Gegenübers. Es gefiel mir nicht, zum Gläubiger geworden zu sein, einem, der daran glauben musste, der Schuldner würde ihn in der Zukunft bezahlen. War das alles absehbar gewesen? Rückblickend fiel mir auf, wie oft er sich bei unseren ersten Gesprächen bei mir entschuldigt hatte, wenn es nur darum ging, dass er spät antwortete.

Die Schulden des anderen können für den Gläubiger zur Belastung werden, nicht allein, da Liquidität fehlt, Schuldgefühle übertragen sich und beginnen, das eigene Denken zu besetzen. Auch darum verleihe ich ungern Geld. Trotzdem habe ich es gelegentlich getan, meist aus Notlagen im direkten Umfeld, dem Konto, das geschlossen werden sollte, oder der Wohnung, aus der jemand zu fliegen droht. Die Notlage der anderen erschien als Verpflichtung, mochte mir mich kruder Umgang mit Geld auch irritieren. Ich halte mich für einen geduldigen Gläubiger, selbst wenn ich gern ungeduldig wäre. Die Umstände haben mich dazu gemacht. Ein jahrzehntelanger Umgang mit psychisch kranken Angehörigen, der verlangt, sie zu erdulden und erzieht zu großem Langmut. Die eigenen Forderungen werden hinten angestellt. Dadurch wird man für die anderen etwas ungreifbar, aber es gibt schlimmere Beschädigungen.

Ein Traum erinnerte mich heute an meine dunkelsten Erfahrungen in der Rolle des Gläubigers. Einer Freundin borgte ich gelegentlich Geld, da sie sich nichts mehr zu Essen kaufen konnte. Meine kleinen Darlehen, die sie auf keinen Fall geschenkt bekommen wollte, beschämten sie so, dass sie ab dem Moment, an dem ich es ihr in die Hand drückte – meist ging es um einhundert Euro – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihn zurückzahlen konnte, jeden Kontakt mit mir abbrach. Sie ging dann nicht mehr ans Telefon und war wie vom Erdboden verschluckt, bis sie mich anrief, um einen Ort für die Rückgabe des Geldes zu vereinbaren. Als ich ihr das letzte Mal Geld lieh, obwohl ich nicht wollte, schien es normal, dass sie einige Wochen verschwunden blieb, bis ihr Anruf kam, sie könnte mir das Geld zurückgeben. Nichts blieb normal. Sie rief nicht an, eine andere Stimme sagte, sie habe tot in ihrer Wohnung gelegen. Sie lag dort schon länger, entsetzlich lange. Es war ein epileptischer Anfall. Ob sie ihr Medikament nicht mehr nehmen konnte oder es nicht wollte, weil sie müde war von dieser Krankheit, die sich ungünstig mit anderen Krankheiten verband, wie Lebensumstände, die sie in vielem auf der Stelle treten ließen, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Es gab in ihrer Wohnung einen Abschiedsbrief, der war aber ein halbes Jahr zuvor geschrieben worden. Danach habe ich lange niemandem Geld geliehen. Die entsetzliche Erfahrung, wie getrennt wir in dieser Gesellschaft lebe oder wie entfernt ich von den anderen bin, da ich nicht mehr dagegen angehe, verfolgten mich über Jahre. Immer wieder stellte ich mir die Situation in der Wohnung vor, detailliert, bis in das Licht und die Frage, ob es eine Entscheidung gab. Als einziges Erbstück besitze ich einen kleinen Aschenbecher aus rotem Emaille von ihr, der mich seitdem täglich auf meinem Schreibtisch begleitet. Zigaretten erinnern einen daran, endlich zu sein, der Aschenbecher gibt dem noch einen Beigeschmack. In den dreizehn Jahren, in denen er mich begleitet, fiel er öfter runter, blieb aber immer ganz, fast so, als ob er beweisen wollte, wie unzerstörbar die Endlichkeit ist.

Nach dem Traum hätte ich das ausstehende Honorar am liebsten in den Wind geschossen. Überhaupt wünsche ich mir oft, gleichgültig mit Geld umzugehen. In dieser Situation schien der Schuldenschnitt aber unangemessen.


Text: Hans-Christian Dany
Zehn