In einem unserer Gespräche sagte Max: Seit er die Galerie vor zwölf Jahren eröffnet hätte, habe der Modus der Krise geherrscht; für ihn, wie für alle anderen Galerien seiner Generation, sei sie normal gewesen.
Ich blieb an dem Wort Krise hängen und fragte mich, gibt es die Krise überhaupt noch oder gibt es nur noch die Mehrzahl? Über die Krisen zu schreiben wäre eine Möglichkeit, aber auch eine Entscheidung für das Gewöhnliche. Ich mag die alltäglichen Dinge. In diesem Sommer spricht aber wirklich vieles dagegen in die allgegenwärtige Krisen-Erzählung einzustimmen, scheint sie doch für manche ein Vorwand, um sich autoritär aufzuführen oder für andere wiederum sich dieser Entscheidung zu unterwerfen. Denn Krise heißt ja nichts anderes, als sich in einem gefährlichen Moment zu entscheiden. Da ich aber weder das eine, noch das andere möchte, scheint es vernünftiger, die Behauptung es gäbe eine Krise, vom Tisch zu wischen, um weder regieren zu müssen, noch regiert zu werden.
Trotzdem gelingt es mir nicht immer zu sagen, die Krise gäbe es gar nicht. Manche Krisen holen mich emotional dann doch ab. Sie triggern sentimentale Gefühle, da ich mich für ein Kind der Krise halte. Sie ist sozusagen meine zweite Mutter.
Im Jahr der Einschulung erschien ein Bestseller, der mein Leben und die Welt veränderte. Es war eine kybernetische Prognose, die errechnete, das Konzept der industriellen Moderne fuhr zielsicher gegen die Wand. Es war ein ungewöhnliches Erfolgsbuch zum suizidalen Modus der Menschheit. Auf den Bericht des Club of Rome mit dem deutschen Titel Die Grenzen des Wachstums folgte die Krise des Ölpreisschocks. Die Preise explodierten. Zuhause zogen wir, das war im Winter 1973/74, dicke Pullover über, anstatt die Heizung aufzudrehen. Das war damals so üblich. Die Krise meinte es aber noch persönlicher mit mir. Mein Vater pokerte hoch, verzockte sich und ging bankrott. Die Umstände unseres bisherigen Lebens fanden über Nacht ein Ende. Es sah zunächst wie eine Befreiung aus. Ich dachte, wenn uns Arbeit und Geld verließen, würde das lustige Leben durch die Tür kommen. Ich schlug vor, mein Vater, der das traditionsreiche Familienunternehmen gegen die Wand gefahren hatte, könnte Postbote werden. Ich würde ihn dann jeden Tagen sehen, wie er auf einem gelben Fahrrad die Briefe in unser Viertel brachte. Bis dahin hatte ich meinen Vater selten zu Gesicht bekommen. Er war ehrgeizig, wodurch wenig für mich übrig blieb. Manchmal durfte ich aber mitkommen zur Arbeit. Wir rollten dann in einer Mercedes-Limousine über die norddeutschen Landstraßen. Die Arbeit sah zuerst aus wie ein Ausflug. Wenn wir am Ziel ankamen, musste ich im Wagen sitzen bleiben. Der Fahrer klappte das Handschuhfach auf, wo die Pistole lag, was mir ein gemischtes Gefühl von Sicherheit gab. Durch das Autofenster sah ich, wie mein Vater auf ein Gebäude zuging — oft waren es Bauwagen oder Hütten — und mit Leuten redete, die meist Helme trugen. An einem Punkt begann immer ein großes Gebrüll. Mein Vater konnte sehr laut brüllen. Es war entsetzlich. Ich hielt mir die Ohren zu. Dann fuhren wir weiter, bis sich die Szene ähnlich an einem anderen Ort wiederholte. So sah also Arbeit aus. Mein Vater war Arbeitgeber. Was mir als Tun ungefähr so erklärt wurde, wie Jesus, der das Brot brach. Die Gefütterten zeigten sich aber undankbar, darum das Gebrüll. Von den Werkzeugen beschäftigte mich neben den Baggern besonders die Pistole des Fahrers. Ich wünschte mir das gleiche Modell in Plastik und bekam es. Sachen die Geld kosteten, bekam ich leicht und Waffen waren schon lange meine Wirklichkeit.
Als kleines Kind hatte ich viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht. In dem Zimmer, indem ich spielte, stand ein riesiger Waffenschrank. In ihm reihten sich ungefähr zwanzig Gewehre aneinander. An den Wänden hing, was Opa erlegt hatte. Dort ließ man mich alleine spielen. Opa hatte nicht viel Zeit, da er mit Oma viel rauchen wollte. Damals wurden Zigaretten noch in 80er Packungen verkauft. Das war Omas Tagespensum. Es beschäftigte sie den ganzen Tag. Opa rauchte Pfeife und wenn ihm öd wurde, erzählte er mir ein wenig, mit welchem Gewehr man was tötete. Auf dem Boden lagen neben zahlreichen Pelzen, ein weißer und ein schwarzer Bär, deren Köpfe ausgestopft waren und denen ich gerne in die großen Glasaugen sah. Eines der Gewehre konnte nicht eingeschlossen werden, da es zu groß war und nicht in den Schrank passte. Es war für die Jagd von Elefanten und ähnelte den Bazookas, die ich in den Fernsehnachrichten aus dem Vietnam gesehen hatte. Eines meiner Lieblingsspiele bestand darin, die Elefantenbüchse mit Schnürsenkeln auf das Dreirad zu schnallen und mit dieser Haubitze durch die Landschaft der toten Tiere zu manövrieren. Das Spiel hieß Krieg. Aber dann war alles vorbei wegen der Krise. Der Opa war ziemlich sauer wegen des Bankrotts und ich durfte eine Weile nicht mehr zum Spielen kommen.
Statt Postbote zu werden, begann mein Vater ein neues Leben mit der Bekämpfung von Katastrophen. Das war nah am Atem der Zeit. Konkret ging es um das Zurückpumpen von Wasser nach der Sturmflut. Ein etwas verlorener Onkel mit einem Helfersyndrom wurde der erste Angestellte und ich der zweite. Die Arbeit bestand darin, den Pumpen im flachen Marschland hinter dem Deich beim Pumpen zuzusehen und gelegentlich den Schlauch zu verlängern. Das gefiel mir viel besser als die Brüllbesuche. Mein Vater war jetzt viel freundlicher da ich für ihn arbeitete und nicht nur nutzlos herumspielte. Erstmals verbrachten wir meinen Geburtstag zusammen und aßen eine Schokolade neben der Pumpe. Das Glück blieb aber endlich. Nach einigen Wochen schwamm das Wasser wieder im Meer und ich war arbeitslos. Seitdem habe ich eine Schwäche für Krisen. Ich verband sie mit dem aufregenden Leben und der Nähe zum Vater. Durch die Krise hatte ich aber auch den Glauben an eine stabile Welt verloren. Mit acht war das prekäre Leben für mich ein alter Hut. Das Gute war, die Verunsicherung wurde mein Schlüssel zur Selbsthilfe.
Mit dem Onkel, der jetzt Autoersatzteile in den Nahen Osten exportierte, baute ich einen Handel mit Altbeständen aus der Fremdenlegion auf. Er besorgte die Ware und ich verkaufte sie auf Schulhöfen. Unser Verkaufsschlager waren Munitionskisten, von denen ich behauptete, sie seien coole Möbel. Warum sich unsere Warengesellschaft nach einigen Monaten im Sande verlief, habe ich vergessen.
Jetzt bin ich etwas abgeschweift. Dabei wollte ich über die Gespräche mit Max schreiben, für den die Krise normal war, der aber auch sagte: Was du schreibst, liest sich persönlich, ohne das man wirklich viel über dich erfährt. Damit konnte ich etwas anfangen, es stimmte ja. Max meinte das freundlich. Sein Lob des Diskreten berührte aber einen wunden Punkt. Eigentlich wollte ich von dem sich persönlich Gebenden, das nicht persönlich war, weg.
Das eine, die Krisen, hat mit dem anderen, dem Undurchsichtigen, zu tun. Es handelt sich aber um einen komplizierten Knoten, den ich selbst nur mühsam aufbekomme. Ich kann es nur etwas umständlich erklären. Durch die Identifikation mit meiner zweiten Mutter Krise lebe ich seit einem halben Jahrhundert in einem Dauerzustand der Selbstverbesserung, den ich aber geheim zu halten versuche. Ich war durch Punk sozialisiert worden und da kam das gar nicht gut. Lieber verschlechterte man sich. Auch in den letzten zehn Jahren war Selbstoptimierung eher das Letzte. Aber was soll man tun, wenn man mit sich unzufrieden ist? Die Mutter-Ey-Presse sah ich jetzt als Möglichkeit, ein kleines selbsttherapeutisches Buch zu schreiben und alles etwas auf die Reihe zu kriegen. Da ich wenig Fantasie habe, musste ich die Behandlung zuerst durchführen. Der Plan sah so aus, das Honorar dafür zu verwenden, dem Hanseatic Gun Club einzutreten und in der eleganten Schießanlage neben der Warburg Bank endlich wieder mit Handfeuerwaffen zu trainieren. Seit der Krise 1974 habe ich nämlich nicht mehr geschossen. Aus den Jahren davor war ich laufend Unterweisung im Umgang mit Handfeuerwaffen gewöhnt gewesen, konnte den Rückstoß aber oft noch nicht halten. Schrotflinten überfordern einen Fünfjährigen. Mein Opa sah das aber nur als eine Meinung unter anderen und wenn ich mal wieder umgehauen am Boden lag, lachte er mich aus.
An der Familie muss man die Dinge aber nun mal nehmen, wie sie kommen. Etwas zu verändern scheint ungefähr so sinnlos, wie sich gegen die Mode zu stellen. Du machst dich damit nur zum Clown. Etwas persönlicher werden könnte ich aber schon. Meine Verwandten nenne ich oft die Warhols, obwohl ich genauso maskenhaft bin wie sie. Dass man über meine Person wenig erfährt, könnte ich auf eine gute Erziehung zurückführen. Nun habe ich aber gar keine gut Erziehung genossen. Gut und schlecht sind zwar relative Kategorien, aber gut passt nicht. Ich lernte zwar früh, wie man Froschschenkel isst und im März Schluss ist mit den Austern. Aber das ließ sich bei Tisch erledigen, ansonsten gab es wenig Zeit dafür. Die Ausflüge auf die Baustellen waren wohl als Erziehung gemeint, aber nach dem Konkurs gab es keine Bauarbeiter mehr, die ich in der Zukunft hätte anschreien können, damit sie einen Tunnel gruben. Man hatte mich ins Leere erzogen und in die Wüste. Im Vakuum konnte ich mich nur noch als Versager entpuppen. Dass ich einer war, hatte mein Vater geahnt, aber jetzt gab er mir das deutlich zu spüren. Da ich nicht allein an allem Schuld haben konnte, begann ich ein Doppelleben.