Doppelleben klingt nach Geheimagent. Ich entwickelte früh eine Schwäche für derartige Selbstvorstellungen, obwohl mir alle Voraussetzungen dafür fehlten. Also lebte ich ein zweites Leben im Kopf. An meiner Mangelhaftigkeit im Ersten war bereits gescheitert, was für mich vorgesehen war. Es hatte große Pläne gegeben, wie Fotos aus der frühen Kindheit belegen. Auf ihnen sieht man, wie ich Ampeln schalte, mit denen der Autoverkehr um die Baustellen gelenkt wird. Ernst, aber zufrieden schaue ich zur Kamera. Endlich konnte ich mich nützlich machen, nach Jahren, in denen ich ein plärrender Schnorrer gewesen war. Mein Eifer stieß aber schnell an seine Grenzen. Beim Bau einer U-Bahnstation am Hamburger Hafen weigerten sich die Beine, den Rest der Strecke auf Gleisen zu gehen, da es zwischen den Holzbalken aus der Perspektive eines Vierjährigen zwanzig Meter abwärts ging. Dem väterlichen Blick, der ebenfalls auf dem Foto zu sehen ist, lässt sich deutlich ablesen, wie enttäuscht er war. Mit Händen und Füßen bemühte ich mich, mein Versagen wettzumachen. Zeichnend versuchte ich mir alles über den Bau von Deichen, Tunneln und was noch in die Erde gegraben werden konnte, anzueignen. Das machte alles noch schlimmer. Erst später verstand ich, Bauzeichner waren die Würstchen am unteren Ende der Leiter. Ich hatte mich nach Unten angesiedelt.

Um das Verhalten meines Vaters verständlicher zu machen: Es war nicht nur Höhenangst, ich war übergewichtig, schwitzte wie jemand, der körperlich arbeitete, hatte eine starke Rechtschreibschwäche und einen trägen Körper, der nicht mal Tennis konnte. Im Schuldbewusstsein, weniger der erwünschte Erbauer von Unterwelten zu sein, als ein Reinfall, legte ich mir die Erklärung zurecht, einer Affäre meiner Mutter zu entstammen und nicht das Kind meines Vaters zu sein. Bevor ich Gelegenheit bekam, das zu sagen, in der Hoffnung, es würde ihn entlasten, kam der Konkurs. Es lag auf der Hand, ich war schuld. Aufgrund meines Versagens hatte der Vater die Perspektive für die Zukunft verloren und dann ging alles den Bach runter. Schuldgefühle bewegen sich oft in der Nähe zum Größenwahn. Ich hielt mich jetzt für Napoleon und der Konkurs meine Niederlage in der Schlacht von Waterloo, bei der ich den Vater rücksichtslos geopfert hatte. In der Haltung des an Magenkrebs erkranken Kaisers, der immer eine Hand schützend auf die obere Magengegend legte, während die andere den Rücken stützte, ging ich jetzt jeden Tag zur Schule.

Der Bankrott hatte eine ordentliche Größe gehabt und war sogar im Radio gemeldet worden. Damals, kurz nach dem Wirtschaftswunder war ein Konkurs noch nicht die entspannte Angelegenheit von heute. Sie galt als der Verlust der Ehre und sah in seinen Augen wie ein Grund aus, sich umzubringen. Da ihm klar war, ohne ihn wären wir lebensunfähig, wollte er uns mitnehmen. Er erzählte mir nicht, wie er unseren Abgang plante, aber ich konnte mir alles ganz genau vorstellen. Im Garten gab es ein großen Apfelbaum unter dem wir am späten Abend im Dunkeln standen. Was wir an Pistolen besaßen, lag sauber aufgereiht im Tresor in der Waschküche. Er wollte es mit der doppelläufigen Schrotflinte tun. Von Großvater wusste ich, Schrot eignet sich nur bedingt zum töten von Menschen. Zwar ließ sich damit ein Jagdunfall vortäuschen, aber ansonsten war es einfach nicht effizient, da man nach einem Schuss nicht sicher sein konnte, ob das Ziel tot wäre. Man musste also pro Person mindestens zweimal schießen und das Gewehr anschließend wieder durchladen. Zuerst kam mein jüngerer Bruder an die Reihe, da der Anblick der Wirkung des gestreuten Projektils einen Erstklässler zu schockiert hätte. So bekam er wenig mit. Ich sah, wie der Schuss den Kopf von Jan-Hendrik in eine blutige Masse verwandelte. Nach dem Einschlag des zweiten Schusses, um sicher zu gehen, kam ich an die Reihe.

Mein Vater hatte sich aber anders entschieden und schenkte uns das Leben. Doch nachdem er es einmal ausgesprochen gesagt hatte, Selbstmord wäre in diesem Moment eine angemessene Haltung, war das Szenario unter dem Apfelbaum in meinem Kopf eine lebendes Bild, das mich nicht mehr verließ.

Überleben ist nicht einfach. Und nach dem Konkurs war ich nicht mal mehr reich. Mit Geld hätte ich mir zumindest die Illusion eines Agentenlebens kaufen können. Die Herausforderung war jetzt mittellos ein Doppelleben, also eine Existenz hinter der Existenz, zu führen, und das, obwohl mir schon das Selbstbewusstsein für ein einfaches Leben fehlte. Wenn ich in den Spiegel blickte, erkannte ich nur eine aufgequollene Wolke und manchmal ein zerfetztes Gesicht. Aus einem anderen Winkel betrachtet, mangelte es mir an lebbaren Vorbildern. Andere Söhne orientierten sich an ihren Vätern. Das ging nicht. Ich konnte nicht mal so laut brüllen und jetzt gab es nicht mal mehr Angestellte, die man anbrüllen konnte, und auch der Rest ging mir ab. So sehr ich mich anstrengte, ich blieb ein dicklicher, tollpatschiger Junge, der etwas steif in der Ecke stand und sich am liebsten hinlegen wollte. Nie würde ich so gut, elegant und dynamisch wie mein Vater aussehen.

Nach dem Konkurs wurden weiterhin fleißig die besten Kleider gekauft, obwohl wir kein Geld mehr hatten. Aber mein Vater sah es so, wenn das Konto ins Minus rutschte, kaufte er sich noch einen schneidigen Anzug. Darin sah er nicht nur besser aus, er konnte sich auch leichter nehmen, was man haben wollte. Unter seiner Leitung lebten wir jetzt fröhlich über unsere Verhältnisse und hatten ziemlich viel Spaß. In den Fotoalben sehe ich zwar oft etwas nachdenklich aus, dachte im Zweifel aber an Wachteleier. Essen war meine Passion neben der Schuld und dem Überleben.

Daran dachte ich auch am 11. Oktober 1987 – ich muss hier einen Sprung in der Zeit machen –  als der Chef meines Onkels unter unklaren Umständen in einem Hotel in Genf gefunden wurde. Das Foto eines Journalisten, der eigentlich ein Interview führen wollte, zeigte einen Mann im schwarzen Anzug in der Badewanne lag. Der Mund ruhte etwas oberhalb der Wasserfläche, woran jeder erkennen konnte, er war nicht ertrunken. Tot war er schon. Und ziemlich viel Dreck am Stecken hatte er auch, was dem Bild in der Badewanne etwas Allegorisches gab. Es handelte sich um den Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes, dem gedroht hatte, die kommende Wahl zu verlieren. Um dies abzuwenden initiierte er eine Schmutzkampagne gegen seinen Gegner, dem er unterstellen ließ, Steuern hinterzogen zu haben und an Aids erkrankt zu sein. Das hatte eine erstaunliche Chuzpe in der damals noch recht betulichen BRD. Als sei das alles nicht genug, sickerte lange durch: Der Tote war über das Notar-Milieu einer norddeutschen Stadt im grossen Stil in den Waffenhandel eingestiegen und bewegte sich in einem erfolgreichen Doppelleben bis in eine Größenordnung, in der Geheimdienste mitmischen. Der Mossad geriet später in Verdacht, den Tod in der Wanne des Beau Rivage vorgetäuscht zu haben, da der Chef vom Onkel nicht nur den Iran und Libyen belieferte, sondern auch Waffenlieferungen nach Israel, die über sein Bundesland liefen, torpedierte. Eine weitere Theorie, die sich aus dem verdeckten Verkauf eines Vergnügungsdampfers aus Südafrika an die DDR ergab, also sozialistischen Spaß aus dem rassistischen Apartheitsregime, brachte wiederum die CIA ins Spiel. Das Doppelleben war komplex gewesen und bald gab es noch einige vorstellbare Täter, die professionell einen Suizid mit in Stufen verabreichten Schlafmitteln vortäuscht haben konnten. Die Spekulationen über die Fremdbeteiligung stützten sich aber nur auf Indizien wie ausgewaschene Whisky-Flaschen, verschwundene Tablettenpackungen oder einen abgerissenen Knopf vom Hemd. Denn der Tote stand in dem Moment mit dem Rücken zur Wand. Vielleicht waren all diese Details nur Zufall und das Ende in der Tat selbstgewählt.

Als die Leiche, dessen, der scheinbar noch gieriger nach der Welt gegriffen hatte, als mein Vater, gefunden wurde, war ich Einundzwanzig und dachte, mich längst von diesem Teil der Welt verabschiedet zu haben. Wie eng sich der Tote in dem Hotel noch mit meinem Leben verweben sollte, war mir aber an dem Tag als die Nachricht kam, nicht im geringsten klar.

Mit Danni, meinem besten Freund, hatte ich die Nacht im Totenschiff, einer Bar am Fischmarkt, verbracht und schlief bis zum Nachmittag. Mein jetziges Zuhause war ein in die Jahre gekommenes Haus am Rande eine Sozialsiedlung, deren Bewohner zu uns kamen, um Drogen zu kaufen. Es hieß das Pillenklinker-Haus, aber für die Pillen fühlte ich mich zu verrückt und für den Handel mit ihnen fehlte mir der Ehrgeiz. Der reichte gerade mal dafür, vor Sonnenuntergang spazieren zu gehen. Und Geld interessierte mich nicht, warum auch, bei 86 Mark Miete. Es gab in der Zukunft nichts zu gewinnen, aber ich würde schon irgendwie überleben mit meinen bescheidenen Ansprüchen. Ungefähr so fühlte sich das damals an. Selbst vom schwarzen Block hatte ich mich im Jahr zuvor verabschiedet, da ich im Strahl des Wasserwerfers vor der Hafenstraße gedacht hatte, die männliche Blockbildung bei der SA dürfte sich nicht soviel anders angefühlt haben. Der Zweifel an allem war mein Ding. Ich musste es nur lang genug in Frage stellen, dann blieb kaum noch etwas übrig. Da das nicht abendfüllend war, trank ich Bier. Die Gegenwart erschien mir wie ein sich dahin schleppender Nebel. In ihm studierte ich Kunst, da das der beste Witz schien und erlaubte, zu tun konnte, was man wollte, es aber nicht auffiel, was man nicht tat. Denn auf eine Art lebte ich gerade mal das depressive Dasein eines zu spät geborenen Punks, also etwas, was schon lange vorbei war. An dem Tag, als der Chef vom Onkel starb, blieb ich nüchtern und dachte an meine Familie unter dem Apfelbaum. Vielleicht wurde mir in diesem Moment klar, das väterliche Vorbild, sich einfach alles zu nehmen, hatte mich so verstört, dass ich nicht wusste, wie ich die Wirklichkeit anfassen sollte. Mag sein, wir Kinder der Kriegskinder waren traumatisiert von den Eltern, die in ihrer Beschädigung gierig und zugleich abgestumpft nach allem griffen, was sie vom Leben bekommen konnten, weshalb wir uns in träge Oblomows verwandelt hatten, die alle Bedürfnisse von sich wiesen. Aber diese Theorie gab es damals noch gar nicht und mir persönlich scheint sie manchmal auch eine schäbige Entschuldigung dafür, den Lauf der Dinge nicht in eine andere Richtung gewendet zu haben.