Vor ein paar Tagen sprach mich der Buchhändler meiner Wahl an und kam schnell auf das zu sprechen, was er das politische Versagen unserer Generation nannte. Hätten alle so gelebt wie wir, wäre die Umwelt nicht kaputt gegangen. Aber wir hätten nicht verhindert, dass es trotzdem passiert sei. Das würde man uns jetzt zum Vorwurf machen. Ich schluckte. Mir fiel nichts ein, bis ich etwas verzögert auf unsere Väter zu sprechen kam, jene Kriegskinder, die ihre Annahme, sich alles nehmen zu dürfen, rücksichtslos durchsetzten, bis wir glaubten, nicht mehr da zu sein. Schon in dem Moment, als mein Mund die Worte formte, fragte ich mich, ob ich wirklich an diese schwache Position als passives Opfer glaubte?

Als ich noch mit meinem Bruder sprach, sagte ich oft: Es führt nirgendwo hin, sein Verhalten damit zu begründen, dass man Eltern hat. Damals vor über dreißig Jahren versuchte ich, Jan von einer Psychoanalyse abzuhalten. Ein ewiges Gestochere im Matsch von Mama-Papa-Kind führe doch zu nichts. So sah ich das. Der Versuch, weder die Eltern noch die politischen Verhältnisse, in denen man lebte, für das eigene Leben verantwortlich zu machen, war eine Illusion. Eine Selbsttäuschung kann aber eine Methode sein, um sich aus einer passiven Situation heraus zu bewegen. Das hat auch immer wieder funktioniert. Mit dem Tod meines Vaters wurde es für mich jedoch unmöglich, mich der Tatsache zu entziehen, sein Sohn zu sein. Auf eine Art versuche ich seitdem, Frieden damit zu schließen. Zweifelte aber auch, ob das Versöhnliche nur eine Flucht vor meiner Unfähigkeit war, Wut zu verspüren? Auch fragte ich mich, ob ich wirklich zurückblicken wollte, in einem Moment, in dem gerade etwas anfing? Warum sich nicht einfach hineinstürzen, so als ob es gestern kein Gestern gab? Was sich gegenwärtig andeutet, wirkt wie eine weitere Stufe des Endes der Nachkriegszeit. Zu den vielen Schrecken des Krieges gehört, wie lange dessen Traumata nachwirken und an nachfolgende Generationen weitergereicht werden. Die Gier, mit der sich die Generation meiner Eltern, der um 1940 geborenen und im Krieg aufgewachsenen Kinder, ihre Wunden in Form einer enthemmten Idee von intensivem Leben, Egoismus und rückhaltlosen Konsum leckten und sich alles nahmen, von dem sie dachten, es stünde ihnen zu, bildet eine der Ursachen der heutigen Verwüstungen. Dass jetzt die im Schatten dieser Haltung immer größer gewordenen Konzerne, wie gerade BASF, Linde und andere, dieses Land, in dem Energie zu teuer und die Verhältnisse unsicher geworden sind, verlassen, scheint mir die Möglichkeit für den Anfang einer Veränderung. Ein Lied, das ich fast vergessen hatte, summt plötzlich wieder in meinem Ohr: Deutschland muss sterben, damit wir leben können. Die Vorstellung war wohl eine andere, als dass das Kapital wie ein scheues Reh die Lichtung verlassen würde, aber warum nicht.

In den letzten Wochen dachte ich oft an die Jahre um 1980, als sich schon mal ein riesiges Potential für einen Umbruch aufgestaut hatte und die Band Slime das Lied erstmals veröffentlichte. Die Wut über Stammheim, die Schlachten um die AKWs, die Großdemonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss oder die Kanzlerkandidatur von Strauß, die Startbahn West und der Häuserkampf, wie die Unlust, nicht mehr in falschen Verhältnissen zu arbeiten, hielt nicht nur an, sie schien auch kaum noch zu stoppen und in Hamburg, wo ich aufwuchs, war all das ganz nah. Die explosive Gewalt dieser Zeit beschränkte sich nicht nur auf politische Straßenschlachten. Sie war im Alltag.

Weichgespült wurde das komplexe Gebilde des Aufbegehrens durch die Gründung der Grünen und den ihnen anhängenden Geist einer neuen Ökonomie. Die Grünen manipulierten und spalteten den Widerstand solange, bis er seine Kraft verlor. Ohne die Grünen hätte sich das Gespenst des Neoliberalismus in Deutschland nie so entfalten können, wie er das getan hat. Darum ist es so unheimlich jetzt zu beobachten, welche Rolle die Grünen heute bei der Planung des Aufbaus der Ukraine als mögliches Modell eines künftigen Akkumulationsregimes einnehmen. Was aktuell auf die künftige Ukraine projiziert wird und sich bereits auf Plakaten als digitaler Produktionsstandort bewirbt, erinnert mich in vielem an den Sturz Allendes in Chile 1973 und die Rolle der Pinochet-Diktatur als Versuchsfeld für die Chicago Boys, welche die damals noch neue Ideologie eines entfesselten Kapitalismus nach den Theorien von Hayeks und Friedmans dort erstmals und ungestört in der Praxis erproben konnten. Da diese Organisation des Überlebens seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre und einem halben Jahrhundert ihrer Abnutzung immer weniger funktioniert und auf unhintergehbaren Widerstand stößt, zwingt das Kapital dazu, nach neuen Möglichkeiten zu suchen.

An all das, von meiner Generation, die mir nie so klar war und die ich nie erkennen konnte, bis zu den Disruptionen der jüngsten Vergangenheit, denke ich, während ich hier über meinen Vater schreibe und darauf zurückschaue, wie sich unser Familienleben in den frühen Siebzigern verändert hat oder ich mich um 1980 verhalten habe. Dass der Tod meines Vaters mit dem Ende des Neoliberalismus zusammenfiel, ist Zufall, aber was sollte meine Geschichte sonst sein?

Mein Vorsatz war etwas Peinliches zu schreiben, dort hinzugehen, wo es weh tut oder auch zu riskieren, mich mit der Banalität meiner Kränkungen zu blamieren. Selbstredend bleibt unklar, ob das alles wirklich geschehen ist, aber Authentizität, was sollte das sein in einer Wirklichkeit, die gerade jeden Tag von einer Person dominiert wird, die ihr mögliches Leben zuvor als Fernsehserie gespielt hat? Oder angesichts jener derzeit am sichersten ins Jetzt treffenden Galerie, die ihre Behauptungen von Zeitgenossenschaft nach dem Modell von Netflix zu generieren scheint? Als Mensch, der die letzten Jahrzehnte oft lieber lesend in Büchern verbrachte, fühle ich mich in dieser erfundenen Wirklichkeit auch gar nicht so unwohl.

Gestern fragte ich mich, ist das, was ich hier schreibe, jetzt Autofiktion? Es stellt sich nicht zum ersten Mal die Frage, was man tut, wenn etwas, das man schon lange so getan hat, in Mode kommt. Kleidungsstücke lassen sich in den Schrank hängen. Da ich mich in verschiedenen Schreibweisen bewege, könnte ich jene Texte, die sich in der Nähe zur Autofiktion bewegen, einfach eine Weile links liegen lassen oder nur für mich allein schreiben. Gerade jetzt entlang der Behauptung des gelebten Lebens zu schreiben und das rückhaltloser, als ich es bisher getan habe, war keine durchdachte Entscheidung, es ergab sich aus der Suche nach einem Nadelöhr, durch das sich das Schreiben dem anzunähern konnte, was mich gegenwärtig bewegt. Der Versuch zu ordnen, was meine Geschichte sein könnte, bedeutet für mich, neben der psychischen Notwendigkeit, eine politische Reflexion, da es sich um einen Blick zurück im Moment des Endes einer Epoche handelt.

Um diese Bewegung durch die Zeit aufzuschreiben, werde ich mehrere Hotels aufsuchen. Das Beau Rivage in Genf habe ich mir bereits im Internet angesehen, und ich werde in einer der nächsten Folgen dorthin reisen. Eine Übernachtung kostet ungefähr so viel wie das Honorar einer Folge dieser Serie.

Schwieriger stelle ich mir die Nacht in einem Hotel in Kiel vor. Mein Bruder stieg dort am 23. Oktober des vergangenen Jahres ab. Auf einem Blatt hinterließ er eine Nachricht: Seine Familie sollte nicht darüber informiert werden, was er im Anschluss tat.

(...)

Nach einer langen Zugfahrt saß ich am Abend danach alleine in einem Restaurant. Es handelte sich um ein französisches Lokal in der Hamburger Innenstadt, das mein Vater oft besucht hatte und das der einzige Ort des öffentlichen Lebens war, den ich von ihm übernommen habe. Nach dem letzten Bissen leuchtete um kurz vor zehn das Handy. Da ich auf dem Display Mutti las und sie mich selten anruft, ging ich ran. Dann ging alles ganz schnell. Sie sagte mit gepresster Stimme, drei Polizisten hätten sie besucht. Jan sei mit einem Freund in einem Hotel gewesen und habe sich umgebracht. Benommen starrte ich in die braune Soße auf dem Teller. Wie viel Zeit verging, bis der Kellner fragte, ob er jetzt den Käse bringen dürfe, weiß ich nicht. Wortlos winkte ich ab und erbat mit einem Handzeichen die Rechnung. Im Taxi fuhr ich zu meiner Mutter. Es klang verwirrend, was sie erzählte: Ein Freund wäre in dem Hotelzimmer gewesen. Da wir in der Familie kaum  über Gefühle sprechen und ich wenig Ahnung habe, wie das geht und oft gar nicht genau weiß, was ich empfinde, schien im Undurchsichtigen der Situation ein Ausweg, etwas zu tun, statt in mich hineinzuhorchen. Zuerst rief ich die Polizei an, um mehr zu erfahren. Der Beamte, mit dem ich sprach, hielt mich für einen der schrecklichen Verwandten des Verstorbenen. Von außen betrachtet hatte ich wenig Gründe für Schuldgefühle, aber der unbekannte Polizist, dem im Zweifel alles gleichgültig war, half ihnen jetzt auf die Spur.

Danach rief ich den erwähnten Freund an, den ich nicht kannte und der auch gar nicht im Hotel gewesen war. Das Gespräch dauerte fast eine Stunde.

Irgendwann war es zu spät, um sich abzulenken.

Wenn ich einen mir nahestehenden Toten nicht mehr gesehen habe, hört mein Kopf nicht auf mit den Versuchen, sich den Leichnam vorzustellen. In diesem Falle passierte es gleich in der ersten Nacht. Die sich aufdrängenden Anstrengungen, mir ein Bild von Jan im Hotelzimmer zu machen, überlagerten sich mit den Fotos von Uwe Barschel. Das kam nicht von irgendwo. Barschel war ein Gespenst in unserer Familie, wie die Abgründigkeit der BRD. Sein Doppelleben verkörpert das unter den Teppich Gekehrte eines auf Lügen gebauten Staates. Als Innenminister von Schleswig Holstein hatte er die martialischen Polizeieinsätze am Zaun des AKWs in Brokdorf geleitet, und er verkörperte, obwohl etwas jünger als mein Vater, aber noch im Krieg geboren, die Gewaltbereitschaft der durch den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder sozialisierten Generation bei der Durchsetzung ihrer Ziele.

Wie Barschel war mein Bruder in einem Taxi ins Hotel gefahren und hatte eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Beide waren, glaube ich furchtbar einsam, interessierten sich sehr für Sex und trugen ähnliche Anzüge. Mein Bruder badete gern. Sie checkten beide am Freitag ein und wurden am Samstag gegen Mittag gefunden.

Meine Vergangenheit als Künstler

In den ersten Jahren des Jahres 1989, dem letzten Semester meines Kunststudiums, rief mich mein Bruder jeden Tag um 12 Uhr an. Ich konnte die Uhr danach stellen. Meist wurde ich gerade wach und trank Kaffee. Die Telefonate mit meinem Bruder verliefen immer ähnlich. Er beschrieb mir die Aids-Viren, die aus dem Treppenhaus durch den Briefschlitz in die Wohnung kamen. Der Tod von Rock Hudson lag gerade mal fünf Jahre zurück. Die Grindelhochhäuser, in denen Jan wohnte, verfügten über ein Rohrsystem, das einem im zehnten Stock ersparte, den Müll hinunter zu tragen. Bald entdeckten die Überträger der Krankheit in der Vorstellung meines Bruders dieses System. Um zu begreifen, was sich als Bedrohung in seinem Kopf entfaltete, halfen mir die Filme von David Cronenberg. Der einzige Ausweg schien ihm, aus dem 10. Stock zu springen. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, meinen Bruder davon zu überzeugen, es nicht zu tun.

Sich das Leben zu nehmen, blieb mir fremd. Die Vorstellung war mir nie gekommen. In der Hoffnung, etwas weniger hilflos mit Jan zu sprechen, begann ich zu lesen. Wenige Monate zuvor war das Tractatus Lococo Suizidalis von Hermann Burger erschienen, und ich las auch Hand an sich legen von Jean Amery. Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte ich das nicht gelesen. Jedenfalls sprach ich in einem der täglichen Telefonate darüber und dass in dem Wort Freitod die Freiheit der Wahl lag. Es war wohl mehr Verzweiflung oder Erschöpfung, als ich das sagte. Nach so vielen Stunden hatte ich einfach keine Ahnung mehr, was ich sagen sollte. Mir schienen diese Aussagen auch nicht falsch, aber in diesem Moment war ihre Wirkung fatal. Die gerade noch weinende Stimme meines Bruders veränderte sich abrupt und sagte schneidend: Du willst mich töten, du wolltest mich schon immer töten. Ich war vollkommen überfordert. Wir sprachen danach eine Weile nicht mehr und unser Kontakt war in den dreiunddreißig Jahren seit diesem Tag sporadisch. Jan fiel es leichter, seiner Aggression freien Lauf zu lassen, und ich blieb lieber auf Distanz. Wir begegneten uns nur noch zu Feiertagen, die zum Alptraum wurden.

Nichts werden

In den Monaten, in denen mein Bruder täglich anrief, schloss ich mein Studium ab. Das Sekretariat händigte mir ein Diplom aus, ein Stück Papier, das ich nie verwendet habe und irgendwann verlor. Jetzt sollte ich Künstler werden, hatte aber keine Ahnung, wie das anzustellen wäre. Meine Mutter schlug mir eine Lehre im Hotel vor. Man konnte das als Beleidigung betrachten, aber ich war nichts anderes gewohnt und der Vorschlag gefiel mir auf eine Art, da ich mir schon damals ein Leben im Hotel vorschwebte. Mochte meine Mutter es auch nicht so gemeint haben, dachte ich, Felix Krull war im Hotel in die Lehre gegangen und ich hielt das Buch von Thomas Mann für eine treffende Beschreibung von dem, was Kunst sein könnte. Ein bisschen Wahrheit musste gut verpackt werden, dabei durfte man lügen, bis sich die Bretter bogen. Mann bot mir überhaupt lange Zeit eine Art Leitfaden, da er die norddeutsche Trägheit der Gefühle so genau auf den Punkt brachte. Auch handelte es sich bei den Buddenbrooks um das einzige Buch, das mir mein Vater ernsthaft ans Herz gelegt hatte, als er einmal mit dem Finger darauf zeigte und murmelte, das sei ein trauriges Buch. Ich las es und fand es ziemlich komisch, verstand aber, was er gemeint hatte.

Die Lehre im Hotel klang nach geregelter Arbeit. Davon wollte ich nicht mehr, als jene Nacht, in der ich ein- bis zweimal in der Woche Flugzeuge mit Post belud, bis sie am Morgen in die aufgehende Sonne flogen. Ich schlief also lieber weiter bis Mittags und ging am Nachmittag spazieren oder lag am Badesee. Am Abend trank ich Bier und tippte auf eine Schreibmaschine. Es war der Anfang von dem, was ich bis heute tue.

Ich habe überlebt

Vor einigen Wochen gab mir meine Mutter ein Foto. Es liegt seitdem auf meinem Tisch. Während es da lag, wurde mir klar, dass ich überlebt habe. Vermutlich habe ich fotografiert und bin deshalb nicht im Bild. Die Aufnahme entstand, als wir bei Danni auf der Pferdeweide eine Steinzeithöhle bauten. Das war im Sommer 1976. Rechts ist Danni zu sehen, damals mein bester Freund. In der Mitte steht Ralf, mit dem wir auch befreundet waren, und links mein Bruder Jan. Alle tragen nur kurze Hosen und posieren in einer merkwürdigen Haltung mit nach oben angewinkelten Armen und leicht verdrehtem Oberkörper. Im Hintergrund liegt eine abfallende Landschaft, im norddeutschen Sinne ein Tal, das wir den Grund nannten. Wir interessierten uns damals für Erdschichten und das Graben von Löchern. Meine Karriere als gescheiterter Tiefbauunternehmer spielte wohl eine Rolle und Ralf wurde Professor für Geologie und lebt heute in Australien. Jan und Danni sind inzwischen tot. Sie starben beide über Jahrzehnte. Zum Schluss hatte ich zu beiden keinen Kontakt mehr.

Manchmal denke ich, die Freundschaft mit Danni hat mich als Kind gerettet. Die Eltern von Danni, der eigentlich Stefan hieß, nannten mich Hanze. Sie betrieben ein dunkles, sehr sauberes Lokal, in dem ich oft saß und mich wohl fühlte. Es war ein wenig besuchter Ort, mit einigen Stammgästen, meist Alkoholikern, die Pegel hielten, und wechselnden jungen Frauen aus dem gegenüberliegenden Heim für gefallene Mädchen, so nannten sie das, auch wenn es als Name nicht an der Tür stand. Die Gründe, das Lokal zu betreiben, nahmen sich etwas undurchsichtig aus. Am Umsatz dürfte es nicht gelegen haben. Der war nicht hoch. Knut, der Vater von Danni, ging jeden Tag in eine Firma, die gestickte Abzeichen produzierte und Helga hatte das Haus und viel Land drumherum von der Mutter, die auch in der Stube saß. Alles schien da und die Ansprüche waren bescheiden. Die Kneipe bildete eher eine weitere Verpflichtung, die nicht ungenutzt brachliegen sollte. Man arbeitete viel oder tat nichts anderes. Der Besitzer der anderen Kneipe in unserem Ort, Kalle Pieper, war zusätzlich Postbote und Bauer. Anständige Leute hatten zwei bis drei Tätigkeiten, mal abgesehen von der Freiwilligen Feuerwehr am Dienstag. Das war der Geist, in dem ich aufwuchs. Alles außerhalb der Arbeit war nichts. Helga und Knut, die weit über 80 sind, betreiben das Lokal bis heute. Neulich telefonierte ich mit Helga. Sie dachte laut darüber nach, jetzt mal aufzuhören. Ich meinte, ich würde die Kneipe an ihrer Stelle nicht schließen.

Da die Einnahmen kein Personal erlaubten, bewirteten die Eltern selbst und auch Danni schenkte aus, seitdem er ein Tablett halten konnte. Ich habe diese Welt, das alte Haus, den Gemüsegarten dahinter, die Weide mit den Pferden und die Gastwirtschaft geliebt, da sie so klar und aufgeräumt schienen, verglichen mit den Verhältnissen, in denen ich aufwuchs. Die stehengebliebene Stimmung beruhigte mich. Manchmal saßen wir im Schankraum und warteten auf die Gäste, die meist ab vier kamen. Was Alkoholismus war, verstand ich als Kind erst langsam, obwohl ich schon damit zu tun gehabt hatte. Zwei Jahre vor der Aufnahme des Fotos am Rande vom Grund war die Mutter meiner Mutter gestorben. Als Frau eines Finanzbeamten führte Oma das Leben an der Seite eines Kühlschranks. Um sich zu wärmen, tröstete sie sich mit billigem Schnaps aus der Speisekammer, bis ihre Leber mit Ende 50 kollabierte. Was ich davon als Kind verstand, weiß ich nicht. Die Trinker bei Danni waren in unseren Augen ziemlich originell und wurden im Verlauf des Abends immer drolliger, aber auch manchmal unheimlich.

1977, im Jahr nachdem wir die Steinzeithütte gebaut hatten, passierte dann Punk. Wir waren elf und für die Fantasie von Kindern formten die Geschichten, die mit dieser Musik ins Leben gespült wurden, die perfekte Fortsetzung der ganzen Kostüm- und Abenteuerfilme, die wir gesehen hatten. Sid Vicious war unser Held. Eine Fortsetzung von Dick und Doof auf der Höhe der Zeit. Vicious war nicht nur eine dumpf debile Slapstickfigur, wir hielten ihn für unglaublich ehrlich und waren fasziniert von seiner Selbstzerstörung.