1978 las ich über den Tunix-Kongress in Berlin. Das hatte wenig mit dem Leben eines Zwölfjährigen zu tun, blieb aber bis heute haften. Da mir meine Erinnerung fadenscheinig erschien, überprüfte ich gestern, ob der Artikel Es ist noch ganz schön weit nach Tunix in der Zeitschrift Sounds tatsächlich abgedruckt worden war und stellte fest, es hatte ihn nicht nur in meinem Kopf gegeben. Tunix bedeutete viel mehr, als den Übergang in eine Wirklichkeit, in der niemand mehr arbeiten musste. Der Kongress im Winter nach dem Albtraum des heißen Herbstes wurde von über 15.000 Menschen besucht. Er markierte den Anfang von vielem, mit dem ich erwachsen werden sollte: die autonome Bewegung oder die Bücher von Merve. Tunix war auch die Landung eines veränderten Denkens in der deutschen Wirklichkeit. Neben Jean-Luc Godard oder Felix Guattari, trat Michel Foucault an der Seite von Heidi Paris bei Tunix auf. Aber das waren Zusammenhänge, die mir damals noch nicht klar waren, genauso wie der Umstand, dass sich Foucault genauso wie die von mir bewunderte Schülerzeitschrift Lila Wildsau für die Befreiung der Sexualität von Kindern stark machte. Das, worauf man sich später, und kaum zu Unrecht, als das Schlimmste einigen würde, war ein emanzipatives Thema meiner anbrechenden Pubertät. Die Lila Wildsau stand gegen Atomkraft, den Krieg und die Polizei, aber am aufgeregtesten diskutierten wir unser Recht auf Sex, auch wenn das für mich damals noch auf einem anderen Planeten stattfand. Ich wurde ein paar Mal von älteren Jungen aus der Nachbarschaft zu den Redaktionstreffen mitgenommen. Es waren harmlose Sitzungen am Boden im Kreis in selbstgefärbter Kleidung, bei denen viel Tee getrunken und noch mehr diskutiert wurde, was mir damals unfassbar cool erschien.
Mein frühes Ende als Kind, das mit Stöckchen spielte und Hütten baute, lag nicht allein an den Beschädigungen durch meine Familie, es war genauso das Ergebnis einer dunklen Zeit. 1977 muss ein verstörendes Jahr gewesen sein. Morgens hörte ich Radio und wenn ich mittags aus der Schule kam, brachte ich mich sofort wieder auf den letzten Stand. Ein SS-Untersturmführer, der die Arisierung besetzter Gebiete vorangetrieben hatte und in der BRD zum Arbeitgeberpräsidenten aufstieg, war von der Roten Armee Fraktion entführt worden. Ein Oberleutnant der Wehrmacht, der mittlerweile als sozialdemokratischer Bundeskanzler diente, lehnte es ab, sich als Staat erpressen zu lassen und löste eine Mobilmachung aus. Während tausende von Polizisten überall die Autos stoppten und mit vorgehaltenen Maschinengewehren die Wohngebiete durchkämmten, schien, was sie Demokratie nannten, wie ein im Nebel versunkener Strand. Nach einigen Wochen wurde Hanns Martin Schleyer in Mülhausen kurz hinter der französischen Grenze im Kofferraum eines Audi 100 tot aufgefunden. Kurze Zeit später lagen jene, die im Tausch gegen ihn freigepresst werden sollten, erschossen in ihren Zellen in Stammheim. In meinem Kopf kollabierten die Erklärungsmuster. Die treibende Kraft der Lila Wildsau, die ich bewunderte, erhängte sich zwei Jahre später im nahegelegenen Moor. Sie war 15. Schon damals hieß der Ausdruck, um das Unfassbare mit Worten zu fassen, Depression. Gerade muss ich oft an die Dunkelheit von damals denken.
“Bukowski hielt Mickey Mouse für einen Nazi”. Charles Bukowski, der das geschrieben hatte, kam 1978 nach Hamburg, um in der Markthalle am Hauptbahnhof zu lesen. Ich verschlang seine Bücher, alle lasen sie, er wurde aber vor allem das Idol von Danni, der später so ein Schriftsteller werden wollte. Dafür wollte er aber vorher noch viel erleben, womit er meinte, viel trinken und fing bald damit an, es stand ja genug im Keller. Über die Jahre wurde er den Säufern in den Bukowski-Erzählungen immer ähnlicher, schrieb aber keine Bücher.
Auf den Audiokassetten, die wir uns 1980 im Kreis reichten, befand sich fast immer eine Liebeserklärung an das Billigbier von Aldi. Der Mitgröhler Karlsquell von Slime traf das Lebensgefühl mit dem Wunsch, sich in abgestumpfte Idioten zu verwandeln. Die Welt würde untergehen, das Beste, was sich bis dahin tun ließ, war Saufen.
Auf einer Party sagte vor kurzem jemand, mit Fünfzehn nimmt man Musik besonders intensiv wahr. Zum Glück war ich im Jahr von Karlsquell erst Vierzehn. Weiter getrunken habe ich trotzdem und tue es bis heute, doch wurde ich selten betrunken, da mir der Kontrollverlust unheimlich war. Ich trank moderat und sozial verträglich. Ich trank, um zu ertragen. Danni hatte hingegen kein Problem, viel zu trinken. Er mied auch konsequenter die Arbeit. Unsere Vorstellung war, wir würden in der Zukunft nie arbeiten, man brauchte uns nicht mehr, „das System“ würde uns aber auf kleiner Flamme am Leben lassen, bis die Katastrophe kam. In den Programmkinos lief damals immer wieder der Film Die Hamburger Krankheit, der die Corona-Pandemie wie eine Halluzination vorwegnahm.
Wie Danni später in dem Häuschen wohnte, das ihm seine Eltern stellten und in dem ihn sein Vater an einem Morgen tot fand, weiß ich nur vom Hörensagen. Es war kurz vor unseren 50. Geburtstagen. Sein Sterben hatte lange gedauert, der Weltuntergang ließ auf sich warten.
Neben der Apokalypse, die wir uns meist als Atomschlag vorstellten, weshalb wir schon unsere Steinzeithöhle mit einer Lage Alufolie gesichert hatten, gehörte zum Nachpunkgefühl eine Vorstellung von Subversion. Wir wollten nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Umgebung ruinieren. Dannis Ideen dafür waren weniger verdreht als jene, die ich mir ausdachte. Seine Mutter besaß eine abgelegene Pferdeweide, auf der ein kleiner Stall stand. Mit ein paar Paletten Karlsquell und eine Art Ghettoblaster veranstaltete er dort an Freitagen eine zeitgemäße Gegenveranstaltung zur Kirchen-Disco, was sich bald herumsprach. Der düstere Stall hatte etwas von der Atmosphäre, die einige Jahre später, als das Privatfernsehen kam, mit der Serie Twin Peaks assoziiert wurde, wenn dort sechzig Teenager betrunken im Schlamm standen und der Name einer befreundeten Punkband, die Patent-Wix-Oral hieß, bestimmte Handlungen am Rand beschrieb. Diese Partys fanden viel öfter statt, als ich dabei war. Schon damals überforderte mich das Soziale und die Ekstase. Sich unter vielen Leuten zu bewegen, fiel mir schwer und darum erfand ich oft Ausreden warum ich nicht kommen konnte. Danni glaubte, das Fernbleiben wäre meiner Überheblichkeit geschuldet, da ich angefangen hatte, mich für Kunst zu interessieren. Er fühlte sich gekränkt. Für mich war es eher das Gefühl ein Sonderling zu sein als die „bürgerliche Scheiße“, die er mir vorwarf. Lieber lebte ich in Welten im Kopf, in denen meine Fantasie souverän walten konnte. Neben langen chinesischen Drachen, mit denen ich in meinen Tagträumen Polizeihubschrauber zum Absturz brachte, wie ich es von Fernsehbildern aus Brokdorf kannte, fantasierte ich den Bau von Rohrbomben. Wieder zog ich Danni in die Sache rein, ging aber so chaotisch mit den Chemikalien um, das es zu einer ungeplanten Reaktion kam, bei der mein bester Freund fast ein Auge verlor. Sein Vater zweifelte langsam an mir als Umgang, da ich immer verkommener erschien und ein gutes Beispiel für Wohlstandsverwahrlosung abgab. Angeregt waren meine Gewaltfantasien neben den Mythen um die Roten Zellen von einem Buch, das ich auf dem Dachboden gefunden hatte. Es handelte sich um die Sechs militärische Schriften von Mao Tse-Tung in einer Ausgabe mit rotem Kunststoffumschlag.
Der Name meines Vaters kroch mit dem Buch nun nochmal durch meinen Körper. Heer Mann bezeichnete im Ursprung den Soldaten, Krieger und Kämpfer. Er hat mir seinen Hermann nicht nur als dritten Namen angehängt, sondern auch auf den Schmutztitel gestempelt. Seine kleine Mao-Bibel, die so gar nicht zu ihm passen wollte, legte das Fundament meiner späteren Faszination für Carl von Clausewitz’ Vom Kriege, Carl Schmitts Theorie des Partisanen oder das Kriegspiel von Guy Debord. Kind zu sein verband sich für mich früh mit Bildern vom Krieg.
Mit Mao, den ich noch gar nicht verstand, beschleunigte sich nun nochmal die Verkomplizierung meines Denkens. Nichts konnte einfach sein, was es war, sondern bedeutete immer etwas anderes. Ein Rückzug war kein Rückzug, sondern ein taktisches Ausweichen der Partisanen. Die Überlegungen zum uneigentlichen Verhalten weckten in mir eine Begeisterung für Agentenromane. Beim Lesen träumte ich davon, selbst ein undurchschaubarer Geheimagent zu werden, dessen Gedanken von den anderen nicht gelesen werden konnten. Es war wohl dieses immer noch unterschwellig in meinem Kopf spukende Selbstbild, aus dem heraus ich vor Kurzem dem Hinweis eines Bekannten nachging, der sagte: Um den Tod von Uwe Barschel zu verstehen sollte ich das Buch Geheimakte Mossad lesen. Am nächsten Tag besorgte ich mir das Buch. Der Autor Victor Ostrovsky, ein ehemaliger Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes behauptet darin, Barschel wollte nicht mit dem Mossad kooperieren, woraufhin ihm die Verschmähten Waffengeschäfte andichteten und anschließend im Beau Rivage in eine Falle lockten. Der detaillierte Bericht der letzten Stunden im Hotel deckte sich mit vielen Ungereimtheiten in der polizeilichen Beweisaufnahme. Barschel öffnete mit seiner Verabredung auf dem Zimmer eine Flasche Rotwein. Die Verabredung gab Magenbeschwerden vor und lehnte es ab mitzutrinken. Der Wein war mit einem Betäubungsmittel präpariert. Barschel wurde ohnmächtig. Dann seien vier weitere Mossad-Agenten ins Zimmer gekommen. Sie schoben Barschel einen geölten Gummischlauch in den Hals und flössten ihm durch einen Trichter verschiedene Pillen in den Körper, die mit Wasser nachgespült wurden. Barschel habe hohes Fieber bekommen. Sie legten ihn in ein Eisbad, was zu einer Herzattacke führte.
Ich kann mich nicht erinnern bis dahin ein Buch gelesen zu haben, das wie dieser Spiegel-Bestseller ein so drastisches Bild des abgründigen Juden zeichnet. Ostrovsky, dessen Erzählung mit der eigenen Kindheit in Israel beginnt, beschreibt Wesen, die wie Automaten töten. Wirklich überrascht war ich nicht. Schon in der Schule wurde uns beigebracht, die Juden hassen sich selbst und von den Nazis wurde gesprochen, als seien es andere gewesen als die Deutschen, die wie die Opfer dieser Spezies wirkten.
Es gibt viele Wahrheiten.
Während die deutsche Seele mit der Mobilmachung gegen Russland in diesem Jahr wieder zu sich findet, sind mir die deutschen Zeitungen wieder unerträglich geworden. An vielen Tagen lese ich darum die Neue Zürcher Zeitung. Neben der Kriegsberichterstattung erscheint darin gerade eine Kolumne. Sie erwächst aus dem Briefwechsel zweier junger jüdischer Frauen. Gestern fragte, die in Berlin Wohnende ihre Freundin in Tel Aviv, ob es überhaupt ein Trauma der Kinder der Täter gäbe, das mit dem Trauma der Verfolgten und ihrer Nachkommen vergleichbar sei. Nein, das Trauma der Nachfahren der Täter sei zu vernachlässigen, antwortet sie sich selbst, um hinzuzufügen, ihr anderer Urgroßvater sei Nazi gewesen. Davon sei sie gar nicht traumatisiert, hingegen sehr von der Verfolgung ihrer jüdischen Vorfahren. Ja, es stellt sich wieder die Frage: Wer hat ein Recht auf Trauma?
Als Kind fand ich auf dem Dachboden beim Spielen einen Ausweis meines Großvaters mit Hakenkreuz. Der Fund verstörte mich, da ich wusste, sein Vater war schon 1933 als Vertreter der „weichen Welle“ im Rahmen der Gleichschaltung aus dem Dienst entlassen und unter Hausarrest gestellt worden. Auf meine Nachfrage antwortete Mutter: Ihr Vater habe versucht seinen Vater durch opportunes Verhalten zu schützen. Dass ihm nichts anderes eingefallen sei, habe aber zum Bruch mit seinem Bruder geführt, der das Mitlaufen für ein schwaches Verhalten hielt. Mich hat dieser Ausweis nicht traumatisiert, aber all das spukt vermischt mit Mao und allem möglichen als dicker Brei in meinem Körper.
Der Vater meines Vaters heißt Hans, der Vater meiner Mutter Christian und mein Vater Hermann. Darum heiße ich Hans-Christian Hermann. Hermann, wie Hermann Göring, der 1938 als mein Vater geboren wurde, die Blitzkriege vorbereitete.
In den Wochen bevor mein Vater starb, besuchte ich ihn regelmäßig im Krankenhaus. Er nahm mein Kommen eher zur Kenntnis und war schon sehr schwach. Wir hatten uns schon lange nicht wirklich viel zu sagen, jetzt schien es noch etwas weniger. Da er unübersehbar bald sterben würde, überlegte ich, ob wir noch über etwas sprechen sollten, das bisher ungesagt blieb. Es wollte mir aber nichts einfallen oder ich traute mich nicht, da wir nie so miteinander sprachen. Darum saß ich meist schweigend an seinem Bett. Manchmal brummelte er wie aus einer traumartigen Welt. In ihr gab es Baustellen am Rand des Meeres oder auf Inseln. Überall lag nasse Erde. Deiche wurden gebaut. Es muss die Welt seiner Kindheit gewesen sein. Die Tage, an denen er seinen Vater auf Baustellen begleitet und dessen Beruf, den er ebenfalls lernte, Tiefbauingenieur, die Arbeit, die sein Leben bestimmte. Mein Vater wurde jetzt jeden Tag kleiner, er verschwand, da der Krebs ihn auffrass. Bei einem meiner Besuche kam überraschend mein Bruder Jan ins Zimmer. Im Unterschied zu meinen Ankünften ging jetzt ein Lächeln über das Gesicht meines Vaters. Auch wenn ich dazu neige, Gefühle, die meine Person betreffen, zu vernachlässigen, gab mir die Situation einen Stich. Dabei hatte ich mich seit Jahrzehnten daran gewöhnt, dass die Fürsorge und Aufmerksamkeit in der Familie bei Jan lag, da er krank war. Genauso lagen die Aufgaben, die sich im Elternhaus ergaben, bei mir. Ich nahm es hin, genauso wie die Vorwürfe meines Bruders, als Erstgeborener der Bevorzugte gewesen zu sein, dem mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde, eine Ungerechtigkeit, deren Ausgleich er nun zu erzwingen suchte. Begünstigend wirkte sich aus, mein Vater wusste mit meinen Tätigkeiten aus einer anderen Welt, die wenig einbrachten, genauso wenig anzufangen wie mit dem dicken und ungeschickten Jungen, der ich gewesen war. Mit Jan, der immerhin in Geschichte promoviert hatte und als Autor für anständige Tageszeitungen lesbare Kolumnen schrieb, konnte er leichter sprechen und ihn, da er krank war, auch versorgen. Diese Rolle versuchte er noch im Sterbebett, als er kaum mehr als Haut und Knochen war, mit Leben zu erfüllen. Wie er das tat, erfuhr ich aber erst später. In diesem Moment ließ ich die beiden allein im Zimmer.
Wenige Wochen nach Jans Tod erzählte mir sein engster Freund, unser Vater habe ihm bei einem seiner letzten Besuche gesagt, er sei ein vielfacher Millionär, Jan würde mehr als genug bekommen und müsste sich keine Sorgen machen. Als ich mir die Szene jetzt vorstellte, musste ich an ein Lieblingslied meines Vaters denken. „Hätten wir nur lieber das Geld vergraben, das wir im Leben versoffen haben, hätten wir so einen Haufen, Kinder was könnten wir saufen“. Jan schien vergessen zu haben, unser Vater war zwar kein Trinker, aber ein ziemlich lebenslustiger Trickster, der sich selbst gern als durchtriebenen Schlawiner bezeichnete, ein begnadeter Spieler, der die Lösungen auf Morgen schob. Du musst den anderen immer das Gefühl geben, sie seien schlauer als du, dann machen sie Fehler und du kannst das Spiel übernehmen, war eine der Regeln, die er mir mit auf den Weg gab.
Gestern, mehr als ein Jahr nach dem Tod von Jan, las ich zum ersten Mal seine an niemanden adressierte Abschlusszeile: „30 Jahre Zwangserkrankung haben mich zermürbt, ich kann nicht mehr. Dr. Jan-Hendrik Dany”. Auch Jan hieß ursprünglich Hermann. Nach dem Tod unseres Vaters, als herauskam, dass es jene Millionen, von denen er auf dem Sterbebett versprochen hatte, gar nicht gab, stellte er einen Antrag beim Amt, um den Namen des Vaters, von dem er sich wohl verraten fühlte, abzulegen. Ich habe mich gefragt, ob Jan genau an jenem Tag im Krankenhaus das fatale Gespräch mit unserem Vater geführt hatte und ob ihm nicht aufgefallen war, dass dieser sich zu diesem Zeitpunkt schon in einer anderen Wirklichkeit bewegte.
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