Gestern fuhr ich an der Kette aus Reihenhäusern vorbei, in der Helmut Schmidt mit seiner Frau Loki wohnte. Die Straße in Langenhorn liegt öfter auf meinem Weg, aber bis heute weiß ich nicht, welches der Häuser es nun genau war. Beim Vorbeifahren denke ich jedesmal sofort an die Verbindung aus Biederkeit, Rationalität und Arroganz, mit der Schmidt die Kontinuität der deutschen Geschichte verkörpert. Und während mir das Bild vom Mann mit der Prinz Heinrich Mütze durch den Kopf ging, musste ich wie immer an meinen Vater denken, obwohl er weder so eine Mütze hatte noch so hart war wie der Ex-Kanzler. Es ist der Scheitel, die Mimik, das Disziplinierte, die Eitelkeit, das starke Rauchen und ein pointiertes Sprechen, was die Zuhörenden auf sich warten ließ, eine reflektierte Idee von Erscheinung. Eine Weile stellte ich mir vor, dieses Auftreten, bei dem es in hohem Maße um Style als Schlüssel zur Autorität zu gehen schien, ließe sich in etwas Freieres verdrehen. Eine Zeitlang gelang das in meinen Augen der Band Palais Schaumburg, als  sie in uniformen Chic mit Popper-HJ-Frisuren sangen: Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm, ich habe ihn gesehen und er war schön.

Als die irren Nazikinder plötzlich im Fernsehen auftraten und aussahen als seien Aliens gelandet, die eine dringende Botschaft übermitteln wollten, trug ich eine bayerische Lodenjanker und ein weißes Hemd von Fred Perry, was in diesem Sommer der letzte Schrei war. Beides stammte aus dem Kleiderschrank meines Vaters. Palais Schaumburg, mit ihrer weltläufigen Musik aus dem Keller der Kunsthochschule, die nur ein paar Kilometer entfernt lag, wurde die Musik, die sich für Jahrzehnte ins Bewusstsein brannte. Mein Bruder hörte zwei Jahre später Fantastic von Wham. Auf eine Art war das viel weiter, eben schon Achtziger, gerade da es jeden Anspruch hinter sich ließ. Jan sah mich aufgrund des kaputten Zeugs, das mich umtrieb, als Looser und ahnte den „arbeitslosen Künstler“, der ich in seinen Augen werden sollte. während er gerade in die Zukunft ging. Nach dem Abitur Lehre bei der Deutschen Bank, dann Bundeswehr, danach Jura-Studium. Das war der Plan. Dann sah er zuerst den Tod. Ein Stubenkamerad nahm sich das Leben. Die Offiziere kommentierten eisig nach dem Motto, nur die Harten kommen in den Garten. Jan fuhr am Freitag verstört von der Kaserne weg. Sein Wagen kam ins Schleudern und überschlug sich mehrmals. Es muss dramatisch ausgesehen haben. Als er aus dem zerstörten Auto torkelte, sagte der Passant, auf den er zuging: „Es kann gar nicht sein, dass Sie noch am Leben sind.“ Kurz darauf begann die Zeit, in der er überzeugt war, sich mit HIV infiziert zu haben. Nachdem er alle negativen Testergebnisse für Fehler oder Betrug hielt, schloss er sich in seiner Wohnung ein. Dann fingen die täglichen Anrufe bei mir an. Aber das war erst acht Jahre später.

1981 stellte mir keine Zukunft vor und ich stellte mir natürlich eine vor. Als Teenager war es verwirrend, wie es unter der damaligen Regierung, die Stammheim gebaut hatte und den Wohlstand durch Kooperationen mit lateinamerikanischen Diktaturen finanzierte, eine Kultur geben konnte, die für das Gegenteil der harten Hand stand. Film, Theater und  Musik wirkten erstaunlich offen. Da in diesem Widerspruch alles und besonders die Demokratie wie eine große Lüge erschien, hieß eine der Parolen von Punk nach einem Slogan der CDU aus den fünfziger Jahren: Keine Experimente. Jeder hoffnungsvolle Versuch wäre die kulturelle Vortäuschung eines freieren Lebens gewesen. Die Unmöglichkeit eines besseren Lebens, der mich später, als ich versuchte, Künstler zu werden, stark beeinflussen sollte. Was tun, außer etwas, was krank war? Aus der Krankheit eine Waffe machen, dieser Titel vom Sozialistischen Patientenkollektiv lag plötzlich wieder als Parole in der Luft, da eine australische Industrial-Band sich SPK nannte.

Tatsächlich empfundene Gefühle, was sollte das in diesem Horror sein? Das Stumpfe, bewusst Hohle, was wir als Abwehr entwarfen, fuhr aber in eine Sackgasse. Jener Grund, an dessen Rand wir als Kinder gespielt hatten, zeigte sich als Abgrund.  

1981 war das Jahr, in dem ich erstmals dachte, ich habe überlebt. Noch waren es nicht Danni oder Jan, die ich überlebte, sondern ein Sommer der Gewalt. Die Friedensbewegung hatte nach der großen Demonstration gegen den Nato-Doppelbeschluss ihren Zenith überschritten. Ich lief vor HSV-Fans weg, die mit einer Fahrradkette nach mir schlugen. An einem anderen Tag stieg ich gerade in eine U-Bahn, als ich bemerkte, der Waggon war bis auf den letzten Platz mit Skinheads gefüllt. Aber da war die Tür schon zu. Zwischen all den grünen Jacken sah ich bereits meine Blutlache. Böse Blicke musterten den schwarz roten Stern an meiner Jacke, als eine Stimme sagte: Hallo Mike, schön dich zu sehen. Es dauerte einige Sekunden bis der Groschen fiel, jetzt setzte ich mich zu dem Unbekannten, der mich ebenfalls nicht kannte, aber Mitleid mit mir hatte oder etwas in der Art. Drei Stationen später stieg ich aus. Selbst mein Vater, der sich sonst nicht die Mühe machte, versuchte mich in dem Klima der Anspannung einmal zu schlagen, nachdem herausgekommen war, dass ich wochenlang die Schule geschwänzt hatte. Unnötig zu sagen, wie überflüssig Schule erschien in einem Leben, indem der Entschluss war, ein Idiot zu bleiben, der längst alles wusste, und jene verachtete, die am falschen Leben teilnahmen. Mir lief es etwas kalt den Rücken runter, als ich jetzt die Liste der Bandnamen las, die sich auf dem ersten Keine Experimente Sampler versammelten: SS Ultrabrutal, Blut + Eisen, Deutsche Trinkerjugend. Aber zumindest hatten die Lieder Titel wie Deutsche raus aus Deutschland. Diese Welt, die ich damals noch mit Danni teilte, war entschieden negativ.

Heute fragte ich mich, ob das damalige Klima der Gewalt und Selbstzerstörung in Zusammenhang mit dem Phänomen der Kriegsenkel stand. Auf die psychohistorische Sicht der Übertragung von Traumata wurde ich erstmals vor zehn Jahren hingewiesen. Mochte ich bis dahin mit solchen Überlegungen wenig am Hut gehabt haben, ging mir diese Deutung sofort unter die Haut. Eine Generation, die Kriegsenkel, wurde durch die Beschädigung ihrer in den Krieg geborenen Eltern geprägt. Einige Wochen schien mir die Theorie wie eine Erklärung, für einen Moment schien mein ganzes Leben glasklar, doch bald verschwanden diese Überlegungen wieder, fast ohne, dass mir dies auffiel.

Der in der Neuen Zürcher Zeitung erscheinende Briefwechsel der beiden jüdischen Frauen und die darin gestellte Frage, ob es eine Traumatisierung der Kinder der Täter gab, schob den Komplex der „Gefühlserbschaft“ (Freud) nun wieder in mein Bewusstsein. Jetzt betrachtete ich die Theorie wie ein Bild, das weder alles beantworten noch ganz wahr sein musste. Was nun als Bild zwischen anderen Bildern hing, war erschreckend und im selben Moment tröstlich. Der Krieg fand in den Köpfen kein Ende, zugleich bot das Bild die Möglichkeit meinen Eltern, die um 1940 geboren wurden, zu verzeihen und ihr Verhalten in Umständen zu betrachten. Im Unterschied zu vielen anderen psychotherapeutischen Perspektiven hat die Kriegsenkel-Perspektive eine Weite, die sich nicht allein auf die Zelle von Papa-Mama-Kind beschränkt und das ödipale Konstrukt Familie in einen politischen Zusammenhang stellt. Für ein Kriegskind spielte es zunächst keine Rolle, ob die Eltern Täter waren. Das Kind erlebt durch den Krieg eine Form von Gewalt, die es überfordert und traumatisiert. Diese Verletzungen seien im Falle der Kriegskinder kaum geheilt worden, da es im Schatten der deutschen Schuld und des Wiederaufbaus keinen Raum gegeben habe die Wunden zu heilen. Ob die nationale Hervorhebung notwendig ist - denn nach welchem Krieg wären die inneren Verletzungen der Kinder geheilt worden? - vernachlässige ich erst mal.

Da sich die Kriegskinder in ihren unverarbeiteten Traumatisierungen emotional verschlossen hatten, taten sie sich schwer die Rolle der schützenden Eltern einzunehmen. Gelebt wurde in der Arbeit und genossen im Konsum, Gefühle ließen sie links liegen. Die Kinder der Kriegskinder, die ab den 1960ern geborenen Kriegsenkel, wuchsen mit eingeschränkten, oft abwesenden Eltern auf, denen sie nichts recht machen konnten, die ihre Empfindungen unterdrückten, von Lebensangst gezeichnet waren und von einem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis getrieben wurden. Stereotype Sätze dieser schwer Erreichbaren lauteten: Du hast viel mehr als wir damals; Wir meinten es doch nur gut; Sei nicht so undankbar. All das kannte ich.

Nach einigen Artikel zu dem Thema überkam mich ein Gefühl der Traurigkeit. Wieder glaubte ich, meine beschriebenen Beschädigungen zu erkennen: Den Nebel, in dem ich mich bewegte, die Schuldgefühle, den Zustand der Unzugehörigkeit und des Ungenügens in einem Leben, das nirgendwo ankommen wollte. In diesem Moment dachte ich an die Rede, die mein Bruder auf der Beerdigung meines Vaters gehalten hatte. Es war ein eloquenter, sprachlich ausgearbeiteter Vortrag über einen abwesenden Vater, dessen emotionale Währung in Form von Geld überwiesen wurde. Jans Rede schloss, er habe Frieden damit geschlossen, wie das Verhältnis mit seinem Vater gewesen sei. Die zahlreichen Gäste, unter ihnen viele, die Geld für eine gute Möglichkeit hielten, um sich in Verhältnisse zu setzen, waren – mir fällt kein treffenderes Wort ein – begeistert. Die Rede wirkte entlastend, nur für den Redner war diese Entlastung von kurzer Dauer.

Auf einer Beerdigung, die ich letzte Woche besucht habe, musste ich an die Rede von Jan denken. Nach der Pastorin sprachen zuerst die Kinder und anschließend die Enkel. Der Sohn, ein Spielkamerad von mir, umarmte das aufgestellte Foto seines Vaters und sagte: Immer warst du da, in jedem Moment und auch jetzt bist du da. Die Totenrede des erfolgreichen Wissenschaftlers, eines geübten Sprechers, überzeugte mich nicht. Alles schien zu viel. Oder lag es daran, dass ich keinen so allgegenwärtigen Vater gehabt hatte? Meine Eltern waren oft nicht da, sie arbeiteten oder feierten viel. Vor allem wirken sie emotional abwesend - das brachte Jan schon auf den Punkt. Aber hat uns ihre Abwesenheit nicht viel Freiraum gelassen?

Als Teenager begann ich Bilder einer kommenden Welt zu entwerfen. In meinen Utopie-Vorstellungen nahm die Familie nur noch eine nachgeordnete Rolle ein, da es für die Auflösung der Klassengesellschaft notwendig wäre, die Kinder ganz früh von den Eltern zu lösen. Während alle die meiste Zeit in Kinder-Kommunen lebten und eine Art Mao-Uniform trugen, gab es nur gelegentlich Wochenendbesuche bei den biologischen Erzeugern. Meine Eltern waren, als ich diesen Entwurf beim Abendbrot ausbreitete, recht beleidigt und drohten, mich in ein Internat zu geben und später sogar mit der Waldorfschule.

Wie beim ersten Mal zerfiel das Bild der Kriegsenkel auch diesmal wieder in meinem Kopf. Warum sollte sich jemand, der sich nirgendwo zugehörig erlebt, im Verhalten einer Generation erkennen? Hinzu kam das Misstrauen, das ich vor Jahrzehnten gegen jede Art von psychologischer Perspektive entwickelte. Erschrocken von dem, was diese Techniken bei meinem Bruder ausgelöst hatten, für den die Familie durch die Psychoanalyse zum Gefängnis wurde, habe ich mich gleich von allem Therapeutischen abgewandt. In diesem Affekt war ich ganz ein Kind meiner Zeit. Anfang der Achtziger galt vielen jede Form von Introspektion und psychologisierender Betrachtung als das Letzte. Das wirkliche Leben konnte allein im Außen liegen. Darin waren Punk und die darauf folgende ziemlich dandy gewesen. Einer, der diesen Zweifel darzustellen schien, war Rainald Goetz. Dessen Auftritt 1983 in Klagenfurt, bei dem er sich die Stirn aufschnitt und sein kurz darauf folgender Roman „Irre“ schien wie eine Erweckung.

Jetzt habe ich Goetz’ frühe Erzählung Subito wieder gelesen. Dieses im Nachgang zur Lesung in Klagenfurt geschriebene Stück fand ich jetzt abstoßend. Was für eine kaputte Männlichkeit. Unfassbar, auf diesen Streber, der sich später für das Bundesverdienstkreuz bückte, derart abgegangen zu sein. Goetz fand aber wohl auch den treffenden Ton für die Kaputtheit der Zeit und da er, statt daran zu leiden, so tat, als fühle er sich großartig, wirkte er, der sich weigerte, Opfer zu sein, wohl faszinierend.

Gefühle waren für mich jahrelang Tabu, ohne dass ich das so deutlich formulierte. Starr ging ich durch die Gegend, genau genommen spürte ich ziemlich wenig und das ging einfach so weiter. Das Dasein hinter einem Schild war normal geworden. Darum fiel es mir nicht leicht um meinen Vater und Jan zu trauern. Vermutlich fange ich erst damit an, aber alles ist auch etwas komplizierter.

Das Leben mit psychisch kranken Angehörigen führt oft zu einer Verpanzerung. Auch ich hatte mir eine dicke Haut zugelegt, um meine Abwesenheit im selbstbezogenen System der anderen zu erdulden.

Mein Bruder, den ich nur noch zu Feiertagen sah und dann einen Angriff nach dem anderen über mich ergehen lassen musste, schrieb, nachdem er eine Zeit lang in der Klinik war und ein Suizidversuch misslang, seine Dissertation über die Achtziger Jahre mit dem Titel: Eine Ikone des Neokonservatismus? Sie beginnt 1979 und analysiert den Blick der Tageszeitung Die Welt auf „Thatchers Rosskur zur Heilung der englischen Krankheit“. Was ihn interessierte, war die journalistische Stilisierung der „Eisernen Lady“ zur Ikone, wobei, darum das Fragezeichen am Ende dieser deutschen Perspektive, Thatchers Bruch mit dem Nachkriegskonsens zu weit ging.

Wenige Wochen bevor Jan starb, zog ich das Buch wieder aus dem Regal. Die Studie über die Ankunft des Neoliberalismus in Europa interessierte mich jetzt nicht aus persönlichen Gründen, sondern da diese Zeit zu Ende zu gehen schien. Ich wollte wissen, wie damals alles anfing, um zu verstehen, was jetzt zu passieren begann. Ich tue das oft, mich zu erinnern, um zu verstehen, was gerade passiert. Darum kam ich mir schon als Kind wie ein Greis vor.

Erst rückblickend fällt mir auf, Jan und ich begannen beide Ende der Achtziger zu schreiben. Mich erstaunt, dass wir beide unabhängig voneinander dort ankamen. Bei uns zuhause wurden viele Briefe und Reden verfasst. Lesen spielte eine Rolle, aber erst am Abend vor dem Einschlafen. Einfach so zu schreiben kam nicht vor. Unsere Eltern waren keine Intellektuellen und nahmen nur auf diese Hamburgische Art an einer Idee vom bürgerlichen Leben teil, das schon damals ausgesprochen provinziell und vor allem mit der Selbstdarstellung des Publikums befasst war. Schreibende waren meist etwas seltsame Einzelpersonen.

Jan fiel das Schreiben leichter. Er hatte eher die Probleme jener, denen alles so einfach von der Hand geht, dass sie es gelangweilt wieder fallen lassen. Auch das Schreiben langweilte ihn, wie vieles. Mir war es lange Zeit unangenehm, wie wenig mich langweilte. Langeweile schien mir attraktiv, aber mich beschäftigte immer alles Mögliche und ich kam gar nicht dazu mich zu langweilen. Ich musste mich einfach ziemlich konzentrieren, um überhaupt ein paar Worte zu Papier zu bringen, und das waren gerade mal Notizen für etwas, für was auch immer. Danni schrieb gar nicht, soweit ich weiß, er stand damals hinter dem Tresen der Kneipe seiner Eltern und war dabei sein bester Gast.

Gestern war ich wieder auf einer Beerdigung. Es ist gerade so eine Zeit. Anschließend saßen wir bei Kalle Pieper in der Kneipe auf der Tanzdiele, wo immer der Leichenschmaus serviert wird. Die Flaschen hatten um die Mittagszeit bereits Löcher und die Kurzen kamen in hohem Tempo. Ein gemeinsamer Jugendfreund erzählte mir aus den Jahren als ich mich zurückgezogen hatte wie Danni jeden Tag stockbetrunken ausgeschenkt habe. Es sei nicht schön gewesen und wäre immer unerträglicher geworden. Er habe es auch nicht mehr ausgehalten. Zu seiner Beerdigung in aller Stille wurde niemand eingeladen. Nächste Woche werde ich in den Immenhof gehen.

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