Zwar habe ich schon beim Aufwachen den Vorsatz mein Leben zu ändern, tue es aber nicht. Ich versuche es, doch nach ein paar Stunden fällt mir nichts anderes ein, als mich wieder hinzulegen.

„Übrigens“ sagt immer jemand: „Depression“. Aber ich werde nicht in diese Falle gehen. „Ich liege an dieser Falle vorbei, bis die Falle vergeht“, lese ich in Heike Geißlers Buch Liegen. Der Titel des neuen Buches meiner Vorgängerin in dieser Serie zog mich an. Ich kaufte es noch am Erscheinungstag und begann sofort zu lesen. Die ersten Seiten schienen mir zu geschrieben, aber ich las weiter. Und während ich immer weiter eintauchte, begann ich, ihren Text zu genießen. Durch Geißlers Zeilen fragte ich mich, ob heute derart geschrieben wird, und das, obwohl in ihrem Ton etwas Unzeitgemäßes mitschwingt, was mich an mein eigenes Fremdbleiben in der Gegenwart erinnerte. Oder war es bei Geißler eine Prägung des Ostens, die zu einer anderen Sprache kommt, die sich gegen den Ton der absoluten Gegenwart sperrt? Ich fragte ich mich auch, ob sich Geißler wohl als Schriftstellerin sieht. Eine abwegige Projektion wie mir ein paar Tage später klar wurde als Geißler die Verleihung des Lessing Förderpreises auf Instagram postete.

Selbstbezeichnungen sind für mich kompliziert. Lieber als das Substantiv verwende ich das Verb. Ich schreibe und denke, vielleicht tue ich das morgen nicht mehr. Auch habe ich das Gefühl, mir stünde die Sprache durch meinen unbeholfenen Umgang mit ihr, zu wenig zur Verfügung, um ihre Handhabung zu meiner Identität zu erklären. Eher fühlte ich mich ständig unterwegs zu jenen, die ich werden könnte. Als Kind versuchte ich mal, Krimineller zu werden. Wie immer zog ich Jan und Danni mit rein. Mein Plan war, den Kolonialwarenladen von Herrn Meißner zu überfallen, um an die MAD-Sonderausgaben zu kommen, für die uns das Geld fehlte. Da Herr Meißner großen Wert auf Ordnung legte, war die Taktik, seinen Laden so lange zu verwüsten, bis er verzweifelt aufgeben würde und die Hefte heraus rückte. Mit zu Dreiecken gefalteten Tüchern vor den Gesichtern, so als spielten wir in einem Western mit, rannten wir rein und kippten unter Gebrüll die säuberlich gestapelte Pyramide aus Dosenerbsen um. Herr Meißner drehte wie vorgesehen am Rad, verteidigte seinen Laden aber bis aufs Blut. Irgendwann gaben wir auf. Natürlich folgte ein großer Ärger, da Herr Meißner meine Mutter anrief. Für mich war es das Ende einer Karriere. Das wenige, was ich an krimineller Energie besessen hatte, sackte unter Null und blieb dort matt liegen wie eine wertlose Aktie. Dass ich mich trotzdem oft schon schuldig fühle, bevor ich mich gerührt habe oder so wenig rühre, um nicht schuldig zu werden, hat seine Ursache aber weniger im damaligen Scheitern, als einer Schwäche Wirklichkeiten zu unterscheiden.

Manchmal wird mir gesagt, ich schreibe wie im Traum, und tatsächlich ist mir oft nicht klar, was real ist und wo die Vorstellung beginnt. So habe ich die Welt schon als Kind wahrgenommen. An einem Sonntag, es dürfte 1974 gewesen sein, klingelte es früh an der Tür. Draußen stand Susanne mit ihrem Vater. Wir gingen zusammen in die dritte Klasse, hatten aber wenig Kontakt. Der Vater von Susanne bat darum, hereinzukommen und mit meinen Eltern zu sprechen. Als wir am Wohnzimmertisch saßen, sagte der ungebetene Gast: Ich hätte gemeinsam mit zwei anderen Jungs versucht, Susanne mit einer Angelschnur in der Schultoilette aufzuhängen. Susanne musste ihren Rollkragen herunterrollen, darunter war tatsächlich eine rote Linie rund um den Hals. Die Situation verunsicherte mich. In meinen Träumen brachte ich oft Menschen um. Nicht, dass ich sie eindeutig ermordete, aber sie kamen zu Tode, und ich war durch Ungeschick, da ich zu spät kam oder sonst etwas falsch machte, irgendwie schuld daran. An einen Vorfall mit Susanne konnte ich mich aber nicht erinnern. Hatte ich die Übersicht verloren? Ausschließen wollte ich meine Schuld jedenfalls nicht und saß nur still am Tisch. Mein Vater sagte, er könne sich das nicht vorstellen. Es wäre aber übertrieben zu behaupten, dass er die Anklage weit von mir gewiesen hätte. Als Susanne und ihr Vater gegangen waren, fragte er skeptisch, ob ich es nicht vielleicht doch getan hätte und das eben nicht zugeben wollte. Über den Nachmittag blieb die Situation unklar. Am Abend rief der Vater von Susanne nochmal an, sie habe inzwischen eingestanden, sie habe sich beim Spielen stranguliert und, aus Angst vor Strafe, die Geschichte erfunden. Eine wirkliche Erleichterung war die Feststellung meiner Unschuld aber nicht.

Letztlich führten viele Puzzlesteine dazu, dass Schuld haben zu meinem Hobby wurde. Dafür muss man schon etwas Größenwahnsinnig sein, aber die Überschätzung meiner Schuld blieb meist halb so schlimm, da ich wenig tat. Ich blieb Napoleon im Kopf. Als ich mit Fünfzig immer noch keiner geregelten Arbeit nachging, habe ich das Hobby im Plural zu meinem Beruf gemacht. Der Seitenwechsel war ein Katzensprung. Es ergab sich, dass mir siebenstellige Schulden geschenkt wurden und ich zum Minusmillionär mutierte. Da die Insolvenz drohte, entwickelte ich ausgehend von dem, was ich bisher getan hatte, einen Businessplan. Mit einem weißen Blatt setzte ich mich an den Tisch und versuchte auszurechnen, wie viele Seiten ich schreiben müsste, um die Schulden zu bezahlen. Thomas Bernhard hatte immer auf Pump ein neues Haus gekauft, um eine Motivation für sein nächstes Buch zu entwickeln. Ich entwarf jetzt eine Variante dieser Methode. Mithilfe der auf dem Papier komplizierter werdenden Berechnung entstand der Plan, ein Vielschreiber zu werden. Bisher hatte ich langsam geschrieben, aber im Schatten des Bankrotts und mit den entsprechenden Drogen würden die Zeilen bald nur noch so aus mir herausfließen. Nach meiner Berechnung müsste ich im Monat vierhunderttausend Buchstaben für die Tilgung der Schulden und weitere vierzigtausend für meinen Lebensunterhalt abliefern. Es wären bei den Formaten, die ich bisher bediente, rund vierundzwanzig Bücher im Jahr und das ungefähr lebenslang. Bei guter Führung würden sie mich aber auf Bewährung früher entlassen. Die Latte hing hoch, dafür hatte ich jetzt ein Ziel oder die Vorstellung einer mich vor sich hertreibenden Horde aufgeregter Bankangestellter, die mich zum Schreiben zwang. Die vorgestellte Zukunft gefiel mir. Durch meinen Kopf schwebten Bilder von einer Art Franz Josef Wagner-Existenz, bis mir klar wurde, der heimlich Bewunderte aus dem Boulevard hatte nur vier Romane und als Ghostwriter drei Biografien geschrieben.

Im wirklichen Leben existierte die Tätigkeit als Autor in der Familie gar nicht mehr. Mein Bruder, der seltener schrieb und vor allem mit arroganten Leserbriefen an die FAZ auffiel, sah mich als „Arbeitslosen“, und meine Mutter schaute erstaunt, wenn ich auf die Frage, womit ich den Tag verbracht hätte, antwortete, ich hätte geschrieben. Um dann kopfschüttelnd festzustellen, wofür du alles Zeit hast. Mein Vater hatte schon nachgefragt, aber nie danach, worüber, geschweige denn, warum ich schreibe, sondern grundsätzlich nur: Wieviel hat dir das eingebracht? Welche Währung er meinte, lag auf der Hand. Der Umsatz war nun mal der Schlüssel zu den Kreditlinien, die die Banken freischalten. Und er wusste genau, ich war nicht kreditwürdig, da sich meine Umsätze erbärmlich ausnahmen und ich keinen Zugang zu dem Land hatte, wo die lustigen Leute leben. Es sollte lange dauern bis ich seine Erziehungsmaßnahme verstand. Jahrzehntelang blieb ich kreditunwürdig und hatte keine Schulden. Ich hatte keine, da mir niemand Geld geliehen hätte, aber auch, weil ich mich schon schuldig genug fühlte. Mit den Schulden verbanden sich darüber hinaus traumatische Erinnerungen an unsere Fahrten jeden Freitag zur Bank, um die wöchentliche Rate zu tilgen. Als wir mal zu spät kamen, weil der Käfer liegen blieb, stand meine Mutter weinend vor der verschlossenen Tür. Es war filmreif, weil meine Mutter so gut aussah, aber ich fürchtete das ganze Wochenende. Montag würde der Gerichtsvollzieher mit einem Kuckuck die Schiebetür des Fernsehers verkleben und meine Rettung ruinieren. Die Schuldenphobie war rational nicht ganz nachvollziehbar, da das Fernsehen mir eigentlich schon als Kind erklärt hatte, hohe Schulden erleichtern das Leben. Ich sah ständig fern, selbst die langen Jesus-Filme zu Ostern oder später Berlin Alexanderplatz, verstand vieles aber noch nicht. Das Meiste ging einfach durch meinen Kopf hindurch, aber es gab Momente, die hängen blieben, wie jene Dialogzeile, die ich vierzig Jahre später verstand. In dem Film sagte eine Frau in einem dunklen Zimmer: Wenn man 5000 Mark Schulden hat, hat man ein Problem. Aber wenn man 500.000 Mark Schulden hat, hat die Bank ein Problem.

Die Szene brannte sich in meine Erinnerung, so wollte ich leben, obwohl ich gar nicht wusste, was so war. Vor vier Jahren fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Plötzlich hofierten mich die Leute von der Bank, die mich bisher nie sonderlich freundlich behandelt hatten, wie sie eben Leute behandeln, die ein ödes Girokonto haben. Sie riefen mich sogar an und wollten mit mir ins Restaurant gehen. Durch die geschenkten Schulden hatte ich jetzt neue Freunde. Ich mag Geld und begriff, es klappt auch mit Minusgeld. Geld vereinfacht die Welt, man braucht über vieles nicht mehr nachzudenken, Zahlen sprechen eine klare Sprache. Fast täglich bekam ich jetzt Briefe, die mir noch mehr Kredite anboten. Kredit-Makler, ein Beruf, von dem ich bis dahin gar nicht gewusst hatte, luden mich zu Austern und Entrecôte ein. Alle wollten mir Geld leihen. Okay, diese Leute wirken zwar etwas komisch, aber das war mir erstmal egal. Für eine handvoll Austern kann ich ziemlich tolerant werden und mache viel mit. Anfang Fünfzig schien ich endlich dort angekommen zu sein, wo mich mein Vater haben wollte. Das Aufziehen eines Kindes, was mich die Jahre zuvor beschäftigt hatte, schien im Vergleich mit der Verwaltung von Schulden eine private Angelegenheit. Verschuldet wird man Teil des öffentlichen Lebens. Dort lernte ich, wenn ich erlesene Weine bestellte oder Gillardeau statt Fine de Clair orderte, führte das bei den Bankern dazu, dass sie meine Kreditlinie verlängerten. Mein professionalisiertes Hobby, Schuld zu haben, bestand darin, Forderungen zwischen Banken hin und her zu schieben. Es ähnelte eine Modelleisenbahn. Ich durfte nicht zu schnell fahren, musste die richtigen Weichen schalten und durfte nicht aus der Spur rutschen. Solange es im Kreis dahin ging war alles gut. Bisher war ich in allen Berufen gescheitert, aber plötzlich gelang mir etwas, doch kam es mir so vor, als ob ich mit verbundenen Augen Auto oder Lokomotive fuhr. Manchmal dachte ich, vielleicht habe ich all das gelernt, als ich Kunst studierte?, also hochstapeln und Gelegenheiten beim Schopf packen. Da ich einige Jahre jünger war als die anderen, blieb ich im Studium ein Außenseiter und musste mir vieles selber erklären. Mag sein, dadurch kam es zu einigen Missverständnissen, die sich später als vorteilhaft erwiesen. Während meines Studiums gab es auch Züge, auf die ich hätte aufspringen können. Ich hätte Modellbauer werden können, Fotokünstler im Fahrwasser der Becher Schule oder sowas wie eine deutsche Variante der picture generation. Aber das kam aus New York oder Düsseldorf, wer braucht sowas in Hamburg. Ich war zu steif zum Mitlaufen und wäre als starker Raucher auch sofort abgehängt worden. Trotzdem habe ich bis heute einen wiederkehrenden Traum, in dem ich ein Neo Geo-Maler bin und eine Art John Armleder-Existenz führe. Dann wohne ich in einer Suite des Hotel Richmond in Genf, streiche flache Flächen und warte auf das Essen.

Ende der Achtziger habe ich dann eine wirkliche Chance verpasst. Damals waren an der HFBK plötzlich eine Reihe US-amerikanischen Konzeptkünstler der alten Schule zu Gast: Dan Graham, Josef Kossuth und für mich am prägendsten, Lawrence Weiner. Die Chance, denke ich im Nachhinein, lag darin, meine anhaltende Punk-Gestimmtheit mit einer strengen Form in eine Art Konzept-Punk zu übersetzen. Aber ich konnte mich nicht sehen und verstand nicht, wie ich gesehen wurde. Um eine Position zu behaupten, dafür reichte es damals noch nicht. Letztlich scheint mir die verpasste Karriere heute als Vorteil: Ich habe überlebt, da ich nirgendwo ankam, und erhalte mir die vorstellbare Möglichkeit, nochmal irgendwo hinzukommen.

Die Erklärung, die ich mir für den unterdrückten Ehrgeiz ausdachte, war eine andere: Ohne Erwartung und die Anstrengung, mich nach der Decke zu strecken, würde die Enttäuschung klein bleiben. Eine meiner Ängste bestanden darin, wie ich es bei vielen Erwachsenen erlebt hatte, bitter zu werden, ob dem, was ich nicht erreicht hatte. Also nahm ich mir lieber gar nichts vor. Und während ich so jahrelang als Rumpelstilzchen meiner Wünsche etwas ziellos spazieren ging, nahm ich es nicht persönlich, dass Schulden auf meine Zukunft angehäuft wurden. Es war der Geist der Zeit, aus diesem Planeten herauszuholen, was herauszuholen war.

Nicht selten wird der Tod des Vaters als Moment der Befreiung und eines Anfangs beschrieben. Manchmal denke ich, diesen Moment verpasst zu haben. Dafür haben wir eine Menge zusammen erlebt, obwohl er so abwesend war. Die Zeit, die wir bewusst gemeinsam verbracht haben, war die Epoche des Neoliberalismus, die kurz nach seinem Tod vorbeiging. Es war aber auch die Zeit nach dem Ende der Moderne. An die Landung von Neil Armstrong auf dem Mond kann ich mich nicht erinnern. Ich war Zweidreiviertel, da vergisst man bekanntlich noch alles. Als nachmoderne Kinder waren wir später überzeugt davon, die Mondlandung hätte gar nicht stattgefunden. Genau erinnere ich mich an die Gespräche mit Danni, bei denen wir uns in unserer Steinzeithöhle erklärten, wie dieser rip off von den Amis organisiert worden wäre. In scharfen Bildern erinnere ich mich auch an die Rückkehr meiner Eltern von den Olympischen Spielen in München 1972. Sie waren verstört und betroffen von den Anschlägen. Die Geburt eines modernen Deutschlands mit dem Design von Otl Aicher verkam zum blutigen Reinfall.

Erst jetzt wird mir wirklich klar, dass mein Vater war als Ingenieur ein Hoffnungsträger der Moderne war, einer von jenen die versprachen „eine andere, bessere, oftmals ideale Welt nicht nur zu verheißen, sondern tatsächlich auch herstellen zu können“, wie es Robert Leucht in Der Ingenieur formuliert. Im Unterschied zu vielem anderen, wurde der Ingenieur nach dem Ende der Moderne aber nicht zu Grabe getragen. Manche versuchten das zwar, aber der Ingenieur, wurde nicht nur der Held aus dem Silicon Valley, sondern auch ein Leitbild bei der Hamas oder der Hisbollah. Der Mythos Ingenieur starb nicht, sondern breitete sich noch weiter aus. Zu seinen besonderen Fähigkeiten gehört es, das „vermeintlich Unwirkliche“ zu realisieren. Den Tunnel, den sich kein Mensch vorstellen kann oder die Maschinen, die schreiben, als seien sie Menschen.