Wie sollte ich das schaffen, eine Annäherung daran, wie ich geworden bin? Es bleiben nur noch fünf Folgen. Bisher zeichnete sich kaum mehr als eine Kontur. Im selben Moment bedrängte mich die Frage, warum ich im Schatten eines drohenden Weltkriegs die eigene Geschichte schrieb? Die Wirklichkeit stellte sich auf den Kopf und ich erinnere mich an Bauklötze.

Während das Grauen kein Ende findet, scheint das Leben einfach so weiterzulaufen. Im Kunstbetrieb befassen sich die Menschen noch immer damit, wie sie gesehen werden. Alle arbeiten an den Bildern, die sich die anderen von ihnen machen sollen. Mein Problem bei diesem Spiel war lange Zeit, ich wollte schnell wieder raus aus den Hüllen, die ich um mich gebaut hatte. Und immer etwas nervös auf dem Sprung, weg von jenem, den ich gerade dargestellt hatte, glaubte ich, die Umgebung nur durch einen Schleier zu erkennen. Darum überraschte es mich, als ich auf diese Texte angesprochen wurde, mehrmals das Wort Realismus fiel. Ich sollte etwas Realistisches geschrieben haben? Schon als Kind lebte ich in einer künstlichen Welt. Wenn ich mal gelobt wurde, war ich sicher, es handelte sich um eine von langer Hand geplante Inszenierung. Als ich später Jean Baudrillards Theorie der Simulation las, schien sie mir kalter Kaffee. Mein Leben war nie anders gewesen. Der folgerichtige Schritt schien der Gang in die Unwirklichkeit der Kunst.

Als ich 1984 zu studieren begann, war meine Annahme, Künstler zu werden, bedeutete, die eigenen Neurosen optimal zum Strahlen zu bringen. Mit dem Ansatz kam ich aber nicht besonders weit. Wahrscheinlich hatte ich etwas missverstanden. Beim Schreiben schien es mir später angemessener, einem verschobenen Blick auf die Wirklichkeit Raum zu geben. Texte leben von Übertreibungen, brauchen aber ein Maß. Gestern sprach ein Freund meine jüngste Fixierung auf das Wort Krise an: Ich würde es wieder mal übertreiben und wäre diesmal sogar banal. Alle würden gerade von der Krise reden.

Wie sollte ich das abstreiten? Als in der Krise aufgewachsenes Kind sehe ich überall Krisen. Man sieht, was man kennt. Und ansonsten bin ich auch nicht ganz sicher, was wirklich ist. Da meine Wahrnehmung zweifelte, identifiziere ich mich mit Prinz Harry, dessen Leben die Neue Zürcher heute als Kampf um die Wirklichkeit beschreibt. Bei Harry sei die Sache offensichtlich, schreibt die Zeitung: Da er seine tote Mutter nie zu Gesicht bekam, blieb es für ihn unsicher, ob Diana wirklich gestorben war oder es sich bei dem Unfall um eine Inszenierung handelte, durch die sie aus ihrem bisherigen Leben verschwinden konnte. Gegen die Vorstellung, die Abwesende lebe irgendwo versteckt, fragte er seinen Bruder William immer wieder: „Das würde sie uns doch nie antun?“ Die NZZ diagnostiziert Harry vor dem Hintergrund dieses doppelten Verlustes der Mutter und der Wirklichkeit eine erschwerte Identitätsbildung und ergänzt diese durch eine anhaltende Trauerstörung. Beide Worte schrieb ich mir auf, faltete den A5 großen Notizzettel und steckte ihn in meine Jackentasche. Und während meine Hände das taten, dachte ich plötzlich an meinen Vater, der immer einen gefalteten 500-Euro-Schein im Portemonnaie mit sich führte, um sich reich zu fühlen, wie er sagte, da er immer potenziell einen drauf machen konnte. Die imaginäre Überlagerung der beiden Handgriffe kollidierte mit der Beobachtung der Rezensentin, dass Harry auf den 400 Seiten seiner Autobiografie nicht einen Satz darüber fallen ließ, was die anderen und besonders Charles gedacht haben könnte. Sofort fühlte ich mich schuldig, nicht für Harry, sondern dass ich mich beim Schreiben zu wenig in meinen Vater hineinversetzt hatte. Nüchtern betrachtet war das absurd, da ich Jahre meines Lebens auf den Wellen surfte, die seine Befindlichkeiten schlugen, aber wann ist man in solchen Fragen schon nüchtern? Taumelnd durchschritt ich wie der kleine Hans nochmal das Drama der Buddenbrockhaften Existenz. Nach dem Konkurs mochte mein Vater kein Geld mehr haben, behielt aber einige der Insignien seiner Vergangenheit: den Siegelring, seine Mitgliedschaft im Überseeclub, den Dufflecoat von Ladage & Oelke, die Pistolen im Tresor und er ging weiterhin kurz vor Silvester zur Jahresabschlussversammlung eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg e.V. in die Handelskammer. Ein Freund nahm ihn mit.
Für meinen Vater bedeutete der Konkurs ein großes Drama. Er betonte später oft, er habe in der Zeit sechs Zähne verloren. Für mich folgten die schönsten Jahre. Das lag daran, dass er nicht mehr ins Büro ging, sondern unsere Garage zum Büro der künftigen Firma umbauen ließ. Die Einfahrt wurde zugemauert und ein Fenster eingesetzt. Wir spielten jetzt zwischen seinen Arbeitsstunden mit Stempeln und Büroklammern. Mein Vater war bis dahin als Tiefbauingenieur Geschäftsführer in einem Familienunternehmen gewesen. Sehr abstrakt, sehr formal, ganz weit weg. Jetzt verstand ich, er war von Kindheit an daran gewöhnt gewesen, sich um nichts zu kümmern. Die Köchin kochte, der Gärtner gärtnerte, der Chauffeur fuhr ihn überall hin. Die Bauarbeiter gruben Löcher und die Buchhalterinnen rechneten ab. Geld war kein Thema, es vermehrte sich wie die Karnickel. Der Konkurs und die plötzliche Abwesenheit von Geld wie der Angestellten wirkten verstörend. Mein Vater ließ zwar einige U-Bahnstationen bauen, hatte aber noch nie ein Ticket gelöst. Als es jetzt dazu kam, drehte er, konfrontiert mit dem Automaten, fast durch. Wir nahmen ein Taxi und der Fahrer ließ uns gehen ohne zu zahlen, einfach um meinen brüllenden Vater loszuwerden. Als wir erstmals gemeinsam einen Supermarkt besuchten, war er schockiert und betrachtete das Schieben des Einkaufswagens als persönliche Beleidigung. Dass mir diese Normalität gefiel, ich sie sogar genoss, gab ihm eine weitere Einsicht in meine Minderwertigkeit.
Damals erklärte mir niemand, was Konkurs hieß und wie es dazu kommen konnte. Erst Jahrzehnte später erzählte der Vater, und dabei klang ein gewisser Stolz in seiner Stimme, er habe das Unternehmen in den nicht mal zehn Jahren seiner Zugehörigkeit auf die dreifache Größe hochgepumpt, da er nicht nur Sohn sein, sondern selbst etwas leisten wollte und dann sei alles gegen die Wand gefahren. Das Traditionsunternehmen war jetzt platt.
Wie lange die für mich schöne Zeit nach dem Konkurs gedauert hat, kann ich nicht genau sagen. Doch schon bald wurde sie von seinem Ehrgeiz überschattet, der Welt und besonders den eigenen Eltern seine Unschuld am wirtschaftlichen Niedergang zu beweisen, indem er neue Erfolge vorwies. Meine Mutter hatte dafür Verständnis und forderte uns auf alles seinem Projekt unterzuordnen. Die eigene Firma, die er oder genauer meine Mutter für ihn gründete, da ihm durch die Insolvenz die Hände gebunden waren, nannten sie Mobilia. Der flexibel klingende Name konnte alles Mögliche bedeuten und auf eine anpassbare Zukunft zugehen. Es handelte sich um eine GmbH für Warenhandel und Dienstleistungen. Das Unternehmen startete wie erwähnt im Katastrophenschutz. Andere Versuche, wie der Handel mit Kork-Produkten, führten nicht wirklich weiter. Die Mobilia, ein flexibles Garagenunternehmen im kalifornischen Stil, das sich nach Hamburg verirrt hatte, wechselte nun in die Zukunftsbranche Outsourcing. Der Begriff, den damals noch niemand kannte, bedeutet, der Kunde soll sich auf sein Kerngeschäft konzentrieren, also meinetwegen Papier herstellen, und Mobilia kümmerte sich um alles andere. Das war 1974, als der Neoliberalismus gerade erst in Chile entwickelt wurde, ganz weit vorn. Outsourcing hatte bei uns zuhause mit seltsamen Maschinen zu tun. Eine der ersten, die mir rückblickend wie aus Kafkas Strafkolonie entsprungen scheint, war eine Entrindungsmaschine. Auf Schiffen angelieferte Baumstämme wurden von Eisenwalzen, die von spitzen Pickeln ornamentiert waren, in einen Kanal aus Messern gezogen, wo ihnen die Haut abgezogen wurde, damit aus dem geschälten Holz Papier hergestellt werden konnte. Als ein betrunkener Maschinist von einem Balken in die Maschine gezogen wurde, erfüllte sich ihre albtraumhafte Erscheinung. Von stillerer Unheimlichkeit waren die selbstgebauten Entwässerungscontainer, in denen die Rückstände der Papierherstellung vom Wasser getrennt wurden, bis der trockene, ziemlich morbide Rest auf eine Deponie entsorgt werden konnte. Auf diesem Friedhof für Schlamm in Klein Nordende, der aus einem polnischen Science Fiction-Film zu stammen schien, spielte ich oft. Irgendwann kam der Auftrag, zwei Meter lange Balken auf einen Meter zu kürzen. Die Maschine wurde von einem Schmied, Herrn Koop in Kuddewörde, nach Entwürfen meines Vaters gebaut. Große Greifer fassten die Balken eng, schnell senkte sich eine Kettensäge auf das Bündel - eine Kastrationsphantasie wie aus dem Bilderbuch. Bei einem der Testläufe, zu dem ich meinen Vater begleitete, riss die lange Kette auf dem Blatt und schleuderte in hoher Geschwindigkeit über den Hof und verfehlte uns nur knapp. Es war ein abenteuerliches Leben und ich hielt meinen Vater für Daniel Düsentrieb. Besonders abenteuerlich war jenes Ostern, als meinem Vater keine Maschine einfiel, um das Innere der Kühlwalzen zu reinigen, über die das Papier kurz vor der Fertigstellung lief. Da alle Arbeiter zu groß waren, um in das Innere der Walzen zu steigen, und mit elektronischen Hämmern die Kalkablagerungen des Kühlwassers abgetragen, wurde Danni und mir der Job angeboten. Begeistert sagten wir zu. Am Ostersamstag fuhren wir mit meinem Vater um fünf Uhr früh in die Fabrik. Es war wie in ein U-Boot einzusteigen und darin wie im Steinbruch zu arbeiten. Obwohl wir Gehörschutz trugen, dröhnte es irrwitzig, eine MRT-Röhre tönt dagegen harmlos. Nach drei Stunden lag ich völlig erschöpft am Boden der Walze. Danni, der Zähere von uns beiden, hielt etwas länger durch, aber irgendwann brach auch sein Kinderwunsch, alles richtig zu machen. Wir stiegen aus der Walze. Wie alt wir waren, erinnere ich nicht genau, obwohl ich das Bild von Danni wie er Kalkweiß schwitzend mit dem Elektrohammer am Boden kauerte, noch genau vor Augen habe. An diesem Ostern, nach der Einfahrt in den Stollen, wurde mein Verhältnis zur Arbeit ruiniert. Zukünftig erkannte ich mich endgültig als faul im Schatten meines fleißigen Vaters. Lange Zeit hielt ich mich für arbeitsunfähig. Geregelte Beschäftigungen gelangen mir nur über kurze Zeiträume. Was ich konnte, war vor mich hin basteln, womit ich mich erstaunlich lange Zeit über Wasser halten konnte. Mein Vater arbeitete im Unterschied zu mir viel. Vor dem Spiegel beschimpfte er sich morgens um Fünf, bis er in den richtigen Modus gelangte, den er anschließend bis zum Abend durchzog.

Nachdem ich mich mit der Volljährigkeit in die Kunst abgesetzt hatte, was ein Leben versprach, indem die Dysfunktionalität einen Ort hatte, verlor ich das Geschäft aus den Augen. Genauso, zog sich einige Jahre später Danni zurück, den nervte, wie sehr ich durch diese bürgerliche Kunst mit mir selbst beschäftigt war.

Zwanzig Jahre später sollte ich über Nacht wieder an die Orte der Kindheit zurückkehren. Mein Vater erlitt in den frühen Nullerjahren einen Schlaganfall und lag wochenlang weggetreten im Krankenhaus. Meine Mutter schrieb zwar immer noch die Rechnungen der Mobilia, schien aber mit der Aufrechterhaltung des Betriebes überfordert. Sollte das Geschäft zusammenbrechen, drohten immense Vertragsstrafen. Auch stellte ich bei der Durchsicht der Unterlagen fest, dass mein Vater sich Vorschuss auf einige Jahre gegeben hatte. Verständlich, er musste Partys feiern und gute Anzüge tragen. Das ausgegebene Geld musste noch verdient werden. Wie so oft hatten wir keine Zeit, die Krise musste bewältigt werden. In einer irren Anwandlung erklärte ich mich bereit der verzweifelten Mutter zu helfen. Ich zog meinen Hochzeitsanzug an und ging am Morgen in die Fabrik, diesmal nicht um Kalk zu klopfen, sondern um so etwas wie einen Chef darzustellen. Zum Glück kannte ich noch einige der Arbeiter und die Fabrik hatte sich auf den ersten Blick über die Jahrzehnte kaum verändert. Die Entrindung gab es nicht mehr, jetzt wurden Schiffe mit Zellulose entladen. Das schien mechanisch und überschaubar. Um kurz nach fünf kam ich zum Hafen, setzte mich zwischen die Zeitung lesenden Arbeiter und versuchte zu tun, wovon ich keine Ahnung hatte. Kurz, ich spielte Theater. Zumindest die Bühne war vertraut: Die abgewrackten Hallen, überall Ölflecken, tätowierte, in einem fort rauchenden Männer und die bedrohlichen Maschinen mit ihrem Geruch nach Eisen. Auf eine Art fühlte ich mich fast heimelig, obwohl ich gerade aus einer ganz anderen Welt kam. Wie durch ein Wunder ging alles weiter. Oder alle spielten mit, um die Normalität nicht zu unterbrechen.

Nach ein paar Tagen wurden in einem Tank 20.000 Liter unbekanntes Öl gefunden und wie immer, wenn der Kunde nicht wusste, was er tun sollte, wurde die Mobilia angerufen. Ich hörte erschrocken zu und antwortete, es sei kein Problem. Nach einigen Umwegen fand ich einen Abnehmer, der das Öl verwenden konnte und bereit war dafür zu bezahlen, verkaufte es dem Auftraggeber aber als aufwendige Müllentsorgung. So konnte die Mobilia an beiden Seiten kassieren. Der Erfolg motivierte mich, immer tiefer in das undurchsichtige Netzwerk der Subunternehmer der Mobilia einzusteigen. Ein Bahnunternehmen in Luxemburg, ein Bauer, der einen besonders wendigen Traktor besaß, mit dem Walzen in der Fabrik manövriert werden konnten, ein alter Baggerfahrer, der den Schlamm aus dem Fluss heben konnte oder ein Versicherungsagent, mit dem ich die Policen erst im Moment des Unfalls abschließen würde. Ich wurde Teil des Milieus. Dass meine Partner mich ernst nahmen, führte ich auf die in der Kunststudium erworbene Fähigkeit zur Hochstapelei zurück, oder genauer, die Möglichkeit, etwas zu tun, was man nicht beherrscht, vielleicht nicht einmal versteht, worum es sich dabei handelt, aber aus einer Ahnung heraus, wie mit verbundenen Augen ausführt. Ich konnte mich in Situationen bewegen, die sich nicht mehr durch ein mir bekanntes Wissen kontrollieren ließen und schwamm jetzt in der Dunkelheit auf ein unbekanntes Gewässer hinaus.