Drei Jahre spielte ich die Rolle meines Vaters und versank tief in der Herkunft, jener klebrigen Masse, die ich glaubte, hinter mir gelassen zu haben. Erst 2008 fiel der Vorhang. Ich konnte von der Bühne abtreten. Dahinter fühlte ich mich wie eine leere Hülle. Gab es mich überhaupt noch?
Im selben Jahr ging meine eigene Kleinfamilie in die Brüche und mein erstes richtiges Buch erschien. Es war ein Sachbuch, was den Rest an künstlerischem Selbstbewusstsein ins Wanken brachte. War ich nicht mal ausgezogen, um eine Stimme zu finden? Jetzt versteckte ich mich hinter einem Thema. Danach wurde ich stumm. Jahre vergingen, bis ich während eines Krankenhausaufenthaltes wieder zu schreiben begann. Der Auslöser war eine Schwester, die ich um mehr von dem Schmerzmittel bat, das sie mir einige Stunden zuvor gegeben hatte. Sie stand am Ende des Bettes und sagte, während sie die kleine, glänzende Kugel zwischen ihren Finger drehte: Am Hauptbahnhof zahlen sie achtzig Euro für so eine Pille. Diese gäbe sie mir noch, aber danach wäre Schluss. Langsam wanderte die Wärme von den Fußspitzen durch den ganzen Körper. Warum ich an das Glück erinnert werden muss, um daran anzuschließen, ich weiß es nicht. Schreiben schien eine Möglichkeit, das Glück selbst herzustellen, statt es aus den Händen anderer zugeteilt zu bekommen. Nicht, dass ich Erhebliches aufs Papier brachte, aber ich schrieb, erlaubte mir, etwas zu tun, einfach nur so. Wurde der Fluss der Buchstaben unterbrochen, kam es mir bald so vor, als ob ich es noch nie getan hätte. Damit es immer weiter ging, gewöhnte ich mir Routinen an, versuchte so zu schreiben, wie ich rauchte. Ziellos vor mich hinzuschreiben hatte etwas von Selbstsorge, schien aber auch politisch in einer Zeit, in der es sich schickte, Pläne zu haben.
Fast auf den Tag, zehn Jahre später, fiel ich 2018 wieder in die Grube der Herkunft. Bei einem der letzten Treffen mit meinem Vater, kurz bevor er ins Krankenhaus kam, flehte ich ihn an, seine Angelegenheiten zu ordnen. Er ließ meine Worte an sich abperlen. Ich wurde immer aufgebrachter. Die Situation eskalierte, bis ich aus dem Zimmer lief.
Rückblickend wurde mir klar, dass es in diesem Moment keinen Ausweg mehr gab. Es war wie im Moment eines Unfalls, wenn das Auge zusieht, wie sich der Körper nicht mehr aufhalten lässt. Als Vater wenige Wochen später starb, blieb mir keine Zeit zum Trauern. Ich fuhr ständig von A nach B und setzte mich auf wechselnde Möbel. Zuerst saß ich am Bett des Toten, dann auf dem Stuhl des Bestattungsinstituts und später an die Tafel, auf der der Leichenschmaus verzehrt wurde. Die Bürokratie des Todes zog sich in die Länge. Mein Vater hatte sich bis zum Schluss verweigert, aufzuräumen. Da die Alleinerbin nicht ausschlagen, sich aber auch um nichts kümmern wollte, schaltete ich in den Modus, den ich von Kindheit an gelernt hatte. Der Kümmerling, den ich so oft dargestellt hatte, verkündete den Angestellten der Firma, die jetzt meiner Mutter gehörte, es müsse sich niemand um seinen Arbeitsplatz sorgen. Wir würden die Firma nicht verkaufen. Ich nahm damals keine Drogen, redete aber wie auf Koks. Dass wir nicht verkaufen konnten, da wir gar nicht das Geld hatten, um die gegen das Unternehmen bestehenden Forderungen, die den möglichen Verkaufspreis überstiegen, zu tilgen, verschwieg ich. Wer wollte das schon so genau wissen? Lieferanten erklärte ich: Sie brauchen sich um ihre Rechnungen keine Sorgen zu machen. Dass mir geglaubt wurde, war erstaunlich. Hatte ich doch keine Ahnung, mit welchem Geld ich all die Versprechen einlösen würde. Auf Kredit redete ich mich um Kopf und Kragen. Damit es weiter ging, trank ich mit Bankern Käffchen und lernte, wie hoch Konten überzogen werden konnten. Die Herren erklärten überzeugend: Ein Chef braucht keine Ahnung zu haben, dafür gibt es Angestellte. Ich brauche mir keine Sorgen machen.
In meinem Leben hatte es bisher weder Schulden noch einen Grund gegeben, juristischen Rat einzuholen. Jetzt saß ich laufend beim Anwalt. Also nicht ich saß dort, meine angenommenen Persönlichkeiten taten das. Es dauerte keine drei Monate, bis eine der juristischen Personen, die ich verkörperte, vor Gericht landete. Der Prozess fand in einer umgebauten Kaserne in Lüneburg statt. Geklagt hatte ein leitender Mitarbeiter, der auf eigene Faust eine fingernagelgroße Videokamera gekauft hatte, um die ihm auf der Nase tanzenden Untergebenen zu überwachen. Ich, der Beklagte, hatte ihn darum fristlos entlassen. Der Saal war rappelvoll. Die Richterin wollte dem Publikum, meist männlichen Betriebsräten in der Ausbildung, gefallen. Sie kam auch gut an, als sie mich schuldig sprach, da ich gekündigt hatte, bevor es zur Tat kam. Die Kamera wäre nicht eingesetzt worden, der Kläger habe nur die Absicht gehegt. Der Chor der Betriebsräte raunte begeistert, als der Mann mit der Überwachungsfantasie eine feine Abfindung erhielt. Danach fuhren wir zurück im Auto des Anwalts nach Hamburg. Der Vollbartträger hatte viele CDs, alle waren von ZZ Top.
Kurze Zeit später lernte ich Spiele kennen, von denen ich bisher nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab. Besonders beeindruckte mich die Bazarphase mit zwei Steuerprüfern, bei der eine nicht mehr genau zu bestimmende Steuerschuld ausgehandelt wurde. Die beflissenen jungen Männer kamen mit Rucksäcken, um sechzig verschwundene Rechnungsnummern zu bewerten. Es wirkte ein bisschen wie Poker ohne Karten. Sie schlugen eine Summe vor und sagten, ich solle darüber nachdenken, während sie auf dem Hof eine Runde drehen würden. Als sie wieder reinkamen, hielt ich eine niedrigere Summe dagegen. Eine Weile sahen wir uns mit unbewegten Mienen an, dann trafen wir uns. Die 60 großen Scheine waren Peanuts. In diesem Moment dachte ich an eines der ersten Bücher, das ich im Studium lesen sollte: Tod auf Kredit von Louis-Ferdinand Céline. Ich hatte es damals verschlungen und musste nun lachen, wie gut mich mein Kunststudium auf das wirkliche Leben vorbereitet hatte. Wie ein guter Hochstapler stapelte ich tief und sagte ständig ungefragt, ich hätte keine Ahnung. Mit dieser Gangart des koketten Dilettanten griff ich im Stechschritt eingestaubte Projekte an. Besonders gefiel mir eine in Ostdeutschland gleich nach der Wende geplante Filiale, an der mein Vater bald wieder das Interesse verloren hatte. Über die Jahre war der Bürocontainer einfach weggerostet und schließlich in sich zusammengebrochen. Den Telefonanschluss hatte er aber nie abgeschaltet und gelegentlich klingelte es in der Ruine.
Mein Vater mochte keine Probleme, wenn sie auftraten, ließ er sie einfach liegen. Da ich nicht so lässig war, hatte ich nun einen ganzen Sack voll. Aber ich will mich nicht beklagen, verwandelte sich mein weltfernes Dasein am Schreibtisch doch nun plötzlich in ein ziemlich praktisches Spiel. Statt mich fantastisch schuldig zu fühlen, wie so lange in meinem Leben, verwaltete ich faktische Schulden, ohne eine Vorstellung zu haben, wie viele es waren. Kam ich in der Wirklichkeit an? Nach einigen Wochen klopfte die Insolvenz an die Tür. Mit der Zahlungsunfähigkeit verband sich eine Lustangst. Ich schlief immer weniger und masturbierte die ganze Zeit, da mir gleich alles um die Ohren fliegen drohte. Mit übernächtigtem Blick ließ sich der Bankrott auch als Erlösung betrachten? Wie dicht der Zusammenbruch tatsächlich vor der Tür stand oder ob ich nur mit der Vorstellung flirtete, konnte ich nicht sicher sagen. Niemand hatte die Übersicht, da mein Vater mehrere Steuerberater und zahlreiche Banken für seine komplizierte Konstruktion beschäftigte. Am Anfang zeichnete ich noch Diagramme und summierte Zahlen, um eine Übersicht zu bekommen, doch immer wieder öffneten sich Schubladen wie Schachtelteufel mit weiteren Überraschungen. Während ich aus dem Staunen nicht herauskam, benahmen sich alle freundlich. Mir schien das unwirklich, noch hatte ich nicht verstanden, dass es in der Arbeitswelt einfach darum geht, etwas aufrechtzuerhalten. So ging die Sonne auf und unter.
Jan war nach der Beerdigung unseres Vaters verschwunden. Er saß nicht mit uns neben dem Leichnam, schüttelte den Kopf, dass ich die Beerdigung bezahlte. Er kam auch nicht zum Aufräumen und beklagte sich, dass ich es tat, dafür gäbe es doch Angestellte. Irgendwann begriff ich, er dachte, ich räume auf, da ich ihn abziehen wollte. In den ersten Wochen hatten wir noch telefoniert, damit war es nun vorbei. Jetzt schlug er durch einen gedungenen Stellvertreter um sich. Vati hatte doch gesagt, da seien Millionen. Und ich legte ihm nur leergeräumte Konten vor. Da unsere Mutter ebenfalls daran gewöhnt war, die Verantwortung anderen zu überlassen, musste ich mit ihrem Anwalt besprechen, wie er dem Anwalt antworten sollte, den Jan eingeschaltet hatte, um seinen Pflichtteil einzufordern. Wäre es besser gewesen, ich hätte mich aus allem rausgehalten? Aber gab es überhaupt noch einen Ausgang aus der Katastrophe? Und wie sollte ich meine Mutter alleine lassen, wenn sie Dinge versprach oder den Honorarkonsul von Samoa damit betraute, die gar nicht möglich waren? Ich sagte, wir müssen zurück in die Wirklichkeit. Doch das kam nicht gut an. In unserer Familie müssen alle vor ihren Bildern im Kopf geschützt werden. Da bin ich keine Ausnahme. Mich konnte in diesem Moment niemand schützen. Alles tobte im Vakuum des Todes der alten Ordnung. Als Jan schließlich meine Mutter vor Gericht zitieren ließ, sagte sie im letzten Moment ab. Lieber gab sie widerstandslos seinen Forderungen nach. Wer konnte das nicht verstehen. Um sie zu erfüllen, musste ich ihr einen weiteren Kredit bei einer Bank organisieren. Ich musste nicht, ich glaubte, ich müsste.
Um mich abzulenken, dachte ich: Das alles ist keine Familiengeschichte, sondern der gewöhnliche Niedergang einer selbstgefälligen Gesellschaft, die, nachdem sie jahrzehntelang über ihre Verhältnisse gelebt hatte, nun ins Schleudern kam?
Die Selbstheilungskräfte des Kapitalismus sind kaum zu unterschätzen. Als die Inflation kam, waren Schulden plötzlich wieder cool. Eine Million Schulden bedeutet, wenn man sie nicht bezahlt, im Jahr bei einer Geldentwertung von 10% einen theoretischen Gewinn von 100.000 Euro. Würde ich noch 30 Jahre leben, mag das als Raucher auch unwahrscheinlich sein, könnte ich jeden Tag ungefähr drei Austern essen. Schulden rechnen sich, aber sie sind auch das Kribbeln der schlaflosen Nächte, die jetzt notorisch wurden.
Auf der Neue Zürcher Zeitung von gestern, über die ich dann doch einschlief, stand gestern: „Ein Zombie ist weg, doch ein Monster entsteht“. Das war anders gemeint, aber es traf, was ich dachte. Aus den Träumen des großen Schlafes tritt jetzt die Katastrophe in wechselnden Gewändern durch die Tür. Aber statt mich auf die Straße zu kleben, um den Marsch in den Untergang zu blockieren, klebte ich an meiner privaten Herkunft. Mama, Papa, Kind, jene Falle, von der ich Jan gewarnt habe.
Habe ich Angst vor der Gegenwart?
Als ich vor vierzig Jahren in der Bewerbung meine Motive formulieren musste, warum ich Kunst studieren wollte, schrieb ich: Mein Ziel sei, ein Wesen zu werden, dessen Bewusstsein sich innerhalb eines Tages bewegt, für den es kein Gestern und kein Morgen gibt. Die totale Gegenwart schien, als es das Internet noch nicht gab, ziemlich anziehend. Meine Gegenwart ist gerade eine fast leere Batterie, da ich das Ladekabel vergessen habe.
5%. 4%. 3%. 2%. 1%.
Ruhezustand.
In der Stille muss ich an Prinz Harry und seine Trauerstörung denken. Leide ich daran? Leiden vielleicht alle daran? Als meine Mutter mich in dem Restaurant anrief und mir Jans Tod mitteilte, weinte ich nicht. War das der Schock oder Jan schon zu weit entfernt? Er hat jenen Schritt getan, den er über dreißig Jahre angekündigt hatte. Tausend Worte wurden wahr.
Heike Geißler sagte später über ihre Mutter Ey Zeit, eine gewisse Ereignislosigkeit ihres Alltags hätte sie dazu gebracht, alles was passiert sei in Text zu übersetzen. Ich merke oft erst im Rückblick, was passiert ist. Verzweiflung erinnere ich, als ich Jan wenige Monate nach dem Tod unseres Vaters nicht erreichen konnte. Ich dachte das Schlimmste und rief eine Polizeistation in der Stadt an, in der er lebte. Nein, sie fänden im Computer keinen Eintrag, gingen dem aber nach. Kaum hatte ich aufgelegt, schämte ich mich ob meines übergriffigen Verhaltens. Man wahrt Distanz in dieser Welt, niemand soll in seiner Kapsel gestört werden.
Postwendend erhielt ich einen Brief von Jans Anwalts, sein Mandant „verbitte“ sich derartige Handlungen in „vermeintlicher Sorge“, es bestünde keinerlei „Gefahrensituation”. Drei Jahre später nahm Jan sich das Leben. Danach dehnten sich die Gefühle in einer Art sedierendem Gas.
Gerade betrachtete ich im Internet das Foto des Anwalts, der damals diesen Brief schrieb, und versuchte mir vorzustellen, wie er mit Jans vom jahrelangen Tavor-Gebrauch erstarrtem Gesicht das weitere Vorgehen erörterte. Tavor unterbricht den Fluss bestimmter Signale im Nervensystem, wodurch Angst und Panikattacken unterbrochen werden. Es ist ein Bestseller unter den Psychopharmaka und führt innerhalb kurzer Zeit zur Abhängigkeit. Tavor ist auch der Produktname einer automatischen Handfeuerwaffe. Uwe Barschel war auch auf Tavor.
Jan Anwalt hatte sich prozentual am Pflichtteil beteiligt, das ließ sich später anhand seiner Rechnung rekonstruieren und erklärte wohl die Härte, die durch seine Briefe spricht. Man sollte das Dasein im Kapitalismus nüchtern betrachten. Für Geld wird sehr viel getan.
Ich träume oft, zu spät zu kommen. Im Wachzustand passiert es mir selten. Zur Beerdigung meines Bruders kam ich zu spät. Zuerst war ich eine Stunde zu früh an einem mir unbekannten Ort. Niemand war dort, aber es sollte auch kein Friedhof sein, sondern ein Wald. Das passte schon, aber es gibt viele Wälder. Nochmals prüfte ich die Adresse auf dem Handy. Das Gerät antwortete, mein Standort sei noch eine halbe Stunde vom Ziel entfernt. In einem digitalen Missverständnis fuhr ich dorthin und kam vor einem Wohnhaus zu stehen. Erschrocken drehte ich um, wo nichts war, und raste zurück, um zitternd auf die letzte Schaufel anzukommen, dann schloss sich das Grab. Es war ein beklemmendes Bild, wie wir uns im Leben verpasst hatten. Schreibe ich das auf, um das sich in meinem Kopf drehende endlich los zu werden? Oder ist es ein Versuch, das Unbegreifbare des Todes einzufangen?
Zu meinen Aufgaben nach Jans Tod gehörte der Anruf bei einem Onkel. Die beiden hatten über Jahrzehnte ein vertrautes Verhältnis, das Jan im Jahr vor seinem Tod aber mit einem seiner gnadenlosen Briefe abgebrochen hatte, wie ich nun erfuhr. Der Onkel war von der Nachricht vollkommen überrascht. Selbstmord, sagte er, als sei es der Name eines Außerirdischen. Ihm war in all den Jahren nicht aufgefallen, wie oft Jan den Raum verließ, um sich die Hände zu waschen oder welche Spuren die Tabletten an seinem Gesicht hinterlassen hatten, dass er nicht einfach nur dick war, sondern aufgequollen von den Tabletten. Es überraschte mich nicht wirklich. In meiner Familie sieht man durcheinander hindurch auf das, was man sehen möchte. Mehrmals stieß der im Umgang mit Sprache geübte Onkel, ein Anwalt, das aus der Zeit gefallene Wort aus, als ob es ein schlechter Geschmack wäre, und sagte dann nochmal: Nie wäre er auf die Idee gekommen, Jan könnte gemütskrank sein. Danach räusperte er sich, als habe er einen schlechten Geschmack im Mund, um wieder über seine eigenen Verletzungen zu sprechen. Seit dem Telefonat habe ich nicht mehr von ihm gehört. Auch andere, mit denen ich sprach, verschwanden. Habe ich den Geruch des Abgründigen an mir, der nicht auszuhalten ist? Nein, wir hatten nie Kontakt.
Ich las vor ein paar Tagen, ein Selbstmörder bringe Schande über die Familie. Darüber habe ich bis dahin gar nicht nachgedacht. Schande klingt nach einer anderen Zeit, das Buch war aber gerade erschienen und der Tod, als Gegenspieler der Funktionalität, ist heute vielleicht noch bedrohlicher. Schlafwandlerisch ging ich durch die leere Mitte der Schande.
Wenn ich Dany in eine Suchmaschine eintippe, listet sie zuerst einige Winzer auf, von denen wir angeblich abstammen. Heute scheint der Name ohne Ruf. Selbst der süße Pudding mit Sahne wirkt aus der Zeit gefallen. Meine Cousinen sind Anwälte in größeren Kanzleien. Wohlanständige Familien, aber ohne einen Namen, der sich ruinieren ließe, außer bei Nachbarn, Familie, in der Firma oder bei den Rotariern. Meinen Eltern war wichtig, was die Leute denken. Man sollte etwas darstellen und nicht falsch auffallen. Gestern Abend sagte meine Mutter: Wir hatten Vorfahren wie aus einem Traum. Ein Urgroßvater aus der mütterlichen Linie war Schokoladenfabrikant und der andere Gefängnisdirektor. In der Summe handelte es sich um eine bürgerliche Herkunft mit pittoresken Flecken. Meiner Kindheit fehlten aber die Markierungen, die für gewöhnlich zu einer solchen Existenz gehören. Weder spielte ich Tennis noch Klavier. Als bis in die Fingerspitzen vernachlässigte Kind tat wenig. Durch Schulabbruch, eine militärische Untauglichkeit als Psycho, verschloss ich mir mit Vorsatz die Türen. Um mich abzusichern, überlegte ich eine Vorstrafe, verwarf sie aber als zu ambitioniert. Die Kultivierung der Trägheit wurde zu meinem Weg. Manchmal fand ich den sich aus unterdrücktem Ehrgeiz ergebenden Abstieg beschämend, aber vermutlich half er mir, zu überleben.
Meine Mutter meinte noch etwas anderes, das oft Literarische unserer Vorfahren. Ihre Geschichten bildeten den Maßstab, wie man sichtbar werden sollte. In der Familie des Vaters waren die Bilder hedonistisch, wie bei jenem Sebastian Dany, über den es sogar Zeitungsartikel gibt. Er ließ sich über den Tag von fünf verschiedenen Frauen durchfüttern, bis er vollkommen verfettet tot umfiel. Später gab es jene Dany Brüder, die nach Brasilien auswanderten, um sich dort im Ausklang des 19. Jahrhunderts zu Tode zu trinken. Es waren nicht nur Männer, da war auch eine angeblich mittellose Tante, die mich mit langer Zigarettenspitze und der sonnendurchfluteten Champagnerschale beeindruckte.
In der Familie meiner Mutter herrschte mehr Disziplin, wie bei dem alten General, der jeden Morgen um fünf Uhr einen Bommi mit Pflaume vor der Gartenarbeit kippte. Der andere Urgroßvater war jener erwähnte Planer einer Gefängnisinsel. Sie bildete die Kulisse des Romans Die Deutschstunde von Siegfried Lenz. Es war ein Gefängnis, in dem nicht gestraft, sondern gelernt werden sollte, wie man wieder ein besserer Mensch wurde. Ein Insasse, Siggi Jepsen, muss einen Besinnungsaufsatz über die Freuden der Pflicht schreiben. Der Sohn eines Polizisten schreibt gegen seinen Vater und über einen bewunderten Maler, der sich gegen die Nazis stellte. Als Vorlage für die Figur wählte der Gefangene oder genauer der Schriftsteller, der den schreibenden Insassen entwarf, Emil Nolde. Der Maler, der gut darin war, einen Mythos um die eigene Person zu inszenieren, entpuppte sich nach dem Erscheinen des Buches als gebückter Parteigänger der Nazis und Antisemit, der im Dritten Reich, statt im Malverbot sich die Bilder nur vorzustellen, als sei er ein Pionier der Konzeptkunst, so gut verdient hatte, dass er für das Entnazifizierungsverfahren seine Steuererklärungen aus der Zeit fälschen musst. Nolde, der falsche Held des Bestsellers von ’68, war einer der vielen Gäste der Großtante meiner Mutter, die das Gästehaus Kliffende auf Sylt betrieb, in dem auch Thomas Mann, Ernst Toller oder Hermann Göring ihre Ferien verbrachten. Der Maler von Mohnblumen schrieb ins Gästebuch: „In den Nächten spürte ich den blassen kalten Mond, im Schlaf und Traum mich störend, und die Leuchtfeuer blitzten. Wein trank ich, als ob ich Trinker wäre.“ Die ausschenkende Tante verfasste als einzige in der Familie eine Biografie. Ich werde sie jetzt lesen.
Die Verwandten bewohnten meine Träume als unheimlich imposante Kulisse, ich selbst fühlte mich zu schwach für meine Geschichte. Seltsam, all das zu erinnern, in einem Moment, in dem Schulden den Ausblick auf die Zukunft besetzen. Sie geben vor, was zu tun ist. Schulden sind aber auch eine Fiktion, denke ich, während in meinem Ohr die Stimme des Bankers nachhallt, der mir gestern anbot, „Selbstschuldner“ zu werden. Ich liebe die deutsche Sprache mit ihrer zweischneidigen Klinge aus unausweichlicher Präzision und doppeldeutigen Abgründen.
Haus Kliffende. Thomas Mann schrieb in das Gästebuch des Hauses am Abgrund des Meeres: „Nicht Glück oder Unglück - der Tiefgang des Lebens ist es, worauf es ankommt“, und das er nicht wiederkommen wolle, weil es anders werden würde, aber doch wieder käme. Halt so ein Thomas Mann-Kaugummi. Wie selbstverständlich denke ich an die Dünen am Anfang von Faserland, jener Erzählung des Sohnes von Christian Kracht, dem Berater von Axel Springer, der unweit vom Haus Kliffende seine Villa hatte. Es erstaunt mich, wenn Väter ihre Söhne auf ihren Namen taufen. Sven Simon, der in den Fußnoten des Wikipedia Eintrags zu Haus Kliffende mehrmals auftaucht, legte den Namen des Vaters ab. Der Sohn wollte nicht Axel Springer heißen, nannte seinen eigenen Sohn aber Axel Sven Springer. Der Alias Sven Simon rettete ihn nicht. Mit 38, im selben Jahr, in welchem er das Buch Sylt. Abenteuer einer Insel herausgab, erschoss sich der Fotograf. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief. Wie Jan schien ihm wohl alles gesagt oder unsagbar. Sie wollten nur weg. Bevor er starb, gab er noch viel Geld für Barbour Jacken aus, die er in einem komplizierten System in seiner Wohnung aufhängte, damit die Viren nicht von der einen Jacke auf die andere überspringen konnten.
In diesem Moment fällt mir auf, wie wenig ich über meine Mutter schreibe, die als Teenager im Haus Kliffende bei ihrer Tante arbeitete. Sie schwärmt von dieser Zeit, so nah an jenem Albtraum mit dem Namen Deutschland. Lasse ich sie hier aus, da sie noch lebt? Ihr habe ich die Liebe zu jenem Gebilde zu verdanken, das Verbindungen ermöglicht, aber fast immer den Spalt der Distanz wiederherstellt. Benutze ich die Sprache, um mich von dem zu entfernen, was ich nicht aushalte?
Als ich diese Folge begann, dachte ich, ich müsste jetzt eine überraschende Wendung bringen, aber ich mache es einfach weiter, bis es wehtut. Etwas Zeit bleibt mir noch. „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Mit diesen Worten begann gestern der Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung zur Implosion der Credit Suisse. Der Kommentator hätte sich ein Ende mit Schrecken gewünscht. „Kapitalismus ohne Konkurs ist wie Religion ohne Sünde. Es funktioniert nicht.“ Die Bank wurde aber nicht abgewickelt, sondern vom Vater Staat aufgefangen, womit das Elend weitergeht. Konnte Jan die Abwesenheit des Vaters, von dem er zumindest hoffte, er würde ihn immer wieder auffangen, nicht ertragen und brachte sich deshalb um? Oder wollte er die Geschichte durch die schlimmstmögliche Wendung zu Ende bringen?