Der Tod meines Vaters liegt bald fünf Jahre zurück. Sein Verschwinden schickte mich auf eine Reise. Wie es mir auf ihr geht? Keine Ahnung. Nicht, dass ich es sonst so genau wüsste, gerade ist es mir aber noch etwas weniger klar. Die Unklarheit ist nicht allein meinem Vater geschuldet. Während sein Tod mich in einen Tunnel schickte, brach die Pandemie aus und später ein Krieg in Europa. Sein Tod war noch absehbar, die Krankheit hatte ihn schon lange gezeichnet. Anderes kam überraschend. Erwartbarer schien hingegen die Inflation, die folgte, und das Ende des Neoliberalismus. Das übersättigte Leben im Westen konnte schon lange nicht mehr so weitergehen. Seitdem fallen die Lebensentwürfe aus ihren Nestern. Schreiben scheint seitdem wie ein Seil, an dem ich mich festhalte, während ich darauf warte, wie die nächste Schicht der Gewissheiten einbricht. In Schüben fallend schreibe ich, versuche eine Stimme zu behalten. Während sich die Worte aneinanderreihen, beugt sich die Stadt, in der ich wohne, über mich, als sei sie ein grotesker Schatten, der flüstert, alles wird so bleiben, wie es war. Man wehrt sich gegen Veränderung. Die Menschen tragen ein Wachs durchtränktes Gewebe, fast so, als würde dann alles an ihnen abperlen. Obwohl ich Uniformen liebe, habe ich die längste Zeit meines Lebens keine Barbour getragen. Erst kurz vor dem Tod meines Vaters kaufte ich mir eine, als ob ich ahnte, bald eine schützende Hülle zu benötigen. Nach dem Kauf verging ein Jahr, bis ich die Jacke zum ersten Mal anzog, um eine Bank zu besuchen. Steif eingepackt kam ich durch die Tür. Jenen, die ich traf, gefiel es. Jan, der sich mehr schützen musste, besaß viele Barbourjacken. Ich kann mich hingegen nicht erinnern, unseren Vater in einer Barbour gesehen zu haben. Meine Barbour sah nach vier Jahren ziemlich angefasst aus.
„Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts“, schreibt Christian Kracht am Anfang von Faserland. Der kompakte Bildungsroman beginnt auf Sylt. Ich verstand das sofort, obwohl meine Familie selten in den Urlaub fuhr, aber auf Sylt verbrachten wir in den siebziger Jahren aber mal einen Sommer. Mein Vater kam nur an den Wochenenden, da er so viel zu tun hatte. Bei einem seiner Besuche aßen wir an der damals gerade eröffneten Gosch-Bude in List ein Fischbrötchen. Auf der Reise zeigte mir meine Mutter das Haus Kliffende, wo sie als Teenager bei ihrer Tante in den frühen Fünfzigern gearbeitet hatte, und Vater zeigte mir die „Springer-Burg“, die in Kampen um die Ecke steht. Nicht dass er eine persönliche Beziehung gehabt hätte, aber mächtige Männer beeindruckten ihn.
Während des Urlaubs erschien ein Artikel über mich in einem Sylter Lokalblatt. Die Autorin lobte die gelungene Balance meiner Erziehung zwischen autoritären und antiautoritären Elementen. Selbstständig gräbt der kleine Christian ein Loch, wo er will. Ich war ihr Argument gegen linke Kinderläden. Genau gab sie meine Überlegungen zum Heiraten wieder. Von der künftigen Gemahlin, es gäbe zwei zur Auswahl, erwartete ich, dass sie meine Uniformen bügeln würde. Hemden müssen beim Mann immer ordentlich aussehen. Meine künftige Frau sollte aber auch arbeiten gehen. Die Beobachterin schloss, ich habe genaue Vorstellungen, denke nach und pflege ein gesundes Verhältnis zum Vater, der gerade weg sei, da er unter der Woche auf dem Bau arbeiten müsse. Es sollte für lange Zeit unser letzter Urlaub werden, da wir kurz darauf bankrott waren.
Den Bewohner der Burg, Axel Springer, bekamen wir nicht zu Gesicht. Im Haus nannte der Verleger seinen Sohn, den er auf den eigenen Namen Axel getauft hatte, Pummelchen. Das Kind gab sich als Heranwachsender den Namen Sven Simon. Er wollte jemand sein und nicht nur die Verdoppelung des Vaters. Das erwachsene Pummelchen trug immer eine Smith & Wesson Chiefs Special bei sich, die aufgrund ihres kurzen Laufes Stupsnase genannt wird. Er hielt die fünfschüssige 9mm-Pistole am Morgen des 3. Januar 1980 in der Hand, als er an der Außenalster, unweit seiner Wohnung, auf und ab lief, bis er auf einer Parkbank den tödlichen Schuss abfeuerte.
Wenige Stunden später wurde Rudi Dutschke auf dem St. Annen Friedhof in Berlin Dahlem beigesetzt. Der ehemalige Studentenführer war drei Jahre älter als der 38-jährige Simon. Gretchen, Rudis Witwe, sagte: “Sven Simon hat sich umgebracht, um für seinen Vater zu büßen”.
Ich glaube, mein Bruder wollte nicht für unseren Vater büßen. Während die Gedanken durch die BRD-Geschichte meiner Kindheit reisen, wird mir nochmal klarer, wie wenig ich verstand, was er nach Jahrzehnten mit den Zwängen und auf Tavor empfunden haben mag. Jan wird mir ein Rätsel bleiben. Ich halte mich an die Erklärung, dass er keinen anderen Fluchtweg aus der Beklemmung der Familie sah, als den Tod.
In schwachen Momenten kam es mir so vor, als würde ich die Schuld meines Vaters sühnen. Oder ich erklärte mir, was ich tat, die Tilgung der Schulden, als eine Therapie durch das gelebte Leben. Und wenn die Selbsterklärungen einmal wieder auf der Stelle traten, flüchtete ich in die Leben anderer Menschen.
Der Generalbevollmächtigte von Axel Springer hieß Christian Kracht. Obwohl das Verhältnis zwischen dem Chef und seiner ausführenden Hand bereits angespannt war, taufte Kracht seinen 1966 geborenen Sohn nach Art des Chefs und eines Bürgertums, in das er sich hineingearbeitet hatte, auf den eigenen Namen. Einige Jahre nach der Geburt des kleinen Christian beauftragte Springer, der den Druck des linken Mobs die letzten Nerven raubte, seine rechte Hand, Kracht Senior, den Verlag zu veräußern. Als der Deal, alles an Bertelsmann zu verkaufen, platzte, verdrehte Springer, um die eigene Ehre zu retten, das gescheiterte Geschäft zu einem Putschversuch seines Generalbevollmächtigten: Kracht habe versucht, ihn auszubooten. Der bestbezahlte Manager der sechziger Jahre wurde wie ein geprügelter Hund aus dem Unternehmen gejagt.
Der Sohn des Abgestürzten, schrieb in den Neunzigern mit Ende zwanzig die Erzählung einer Reise, Faserland, dessen zweite Szene unweit vom Klenderhof, der Burg, spielt, wo der alte Kracht wortlos am Champagner nippte, wenn der Chef wieder mal seine Launen an ihm abließ. Axel Cäsar kommt in Faserland gar nicht vor. Was bleibt, ist der sprachlose Champagner, der in der nahegelegenen Bar Odin.
Den Klenderhof hatte Springer 1962 erworben, sieben Jahre nachdem meiner Urgroßtante als Wirtin die Luft ausgegangen war. Ihr nur wenige Minuten entferntes Gästehaus am Ende des roten Kliffs musste die alleinerziehende Witwe 1955 an jene Bank verkaufen, die im Dritten Reich die Enteignung des jüdischen Kapitals besorgt hatte. “Hier auf Sylt stand die Flak, sozusagen auf vorgezogenem Posten, und die Engländer waren hier stationiert nach dem Krieg, und als Kind habe ich in den letzten Bunkern gespielt”, erinnert sich Kracht in Faserland. Auch mich haben diese Bunker als Kind sehr fasziniert. Erkannte ich in ihnen die Schutzräume, die mir fehlten?
Einer ihrer Bauherren, Hermann Göring, urlaubte Anfang der dreißiger Jahre im Haus Kliffende. Er blieb nicht der einzige hässliche Gast. Die Großtante soll aber nie die Hakenkreuzfahne gehisst haben, lese ich in einer Sylter Chronik. Kliffende wird darin sogar als einziger Treffpunkt derer erwähnt, die dem NS-Regime widerstanden, auf der den Nazis ansonsten freundlich gesinnten Insel.
Die Wirtin, die nach ihrem Abschied von Kliffende Schriftstellerin wurde, formulierte ihre Haltung zurückhaltender. Sie vertuschte nicht, dass ihr Haus vom deutschen Abgrund befleckt wurde. Wie an vielen Orten, an denen in den zwanziger Jahren eine Melange aus Highlife und Künstlern verkehrte, gefiel es einer bestimmten Partie ambitionierter Nazis, auch an diesen Ort vorzudringen, der in den Sechzigern zur Keimzelle des “neuen Kampen” für den Nachkriegs Jetset werden sollte.
In einer knappen Erzählung in ihrem Buch Kampener Skizzen schildert die ehemalige Wirtin Clara Tiedemann, wie sich der Vater von Roland Freisler, ein unauffälliger Stammgast seit Jahren, eines Tages, während sich alle Gäste am Strand bei Buhne 16 vergnügen, in das Haus schlich und gebeugt den Stuhl betrachtete, auf dem sein missratener Sohn, der kurze Zeit später zum Präsident des Volksgerichtshofs zum Gesicht der NS-Justiz aufstieg, seine Mahlzeiten einnahm. Die Wirtin forderte den alten Mann auf, zu bleiben, der wollte aber einfach nur weg. Ihre auf die menschliche Enttäuschung konzentrierte Erzählung trägt den Titel Der Vater.
Auf eine ähnliche Haltung, die die Schuld nicht von sich weist, stoße ich auf der Suche nach den Spuren meiner Herkunft in einem faksimilierten Dokument im Internet: Es handelt sich um eine aus dem Glücksburger Telefonbuch kopierte Seite, die den Eintrag meines Urgroßvater zeigt. Hans-August, der Bruder der Wirtin, befand sich bis 1953 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Im Lager überlebte er mehrere Todesurteile und kehrte als 68-jähriger mit den letzten Heimkehrern zurück. Er hatte im Dritten Reich als General beim Reichsarbeitsdienst im Gau Stettin gedient. Seinen NS-Titel in leitender Funktion bei der aus Heranwachsenden rekrutierten Bautruppe der Wehrmacht führte er „a.D.“, wie ich jetzt feststelle, noch in der BRD vor seiner Telefonnummer. Er habe ihn stolz getragen, da er die Auffassung vertrat, er habe gesühnt, erklärt mir einer seiner Enkel. Was verstörend wirkt, stößt bei mir den Gedanken an: Hätten nicht alle Deutschen ihre Vergangenheit im Dritten Reich ins Telefonbuch einschreiben sollen, statt sie wie Emil Nolde, Günter Grass, Helmut Schmidt oder Hanns-Martin Schleyer zu verstecken, in dem sie ihre Vergangenheit verschwiegen?
Der Reisende in Faserland sagt, „Halt’s Maul, du SPD-Nazi“, und sprach mir aus der Seele. Der Klang dieser Fahrt durch Deutschland war für mich eine geheimnisvolle Erweckung.
Schreibe ich das jetzt, da mir mein Leben ohne die Nazis unbegreiflich ist? Fast alle Versuche der Autorschaft meines Lebens wurden an irgendeinem Punkt durchkreuzt von jener Vergangenheit, die ich nie erlebt habe. Aber stimmt das? Lebte ich nicht mit den Gespenstern? Meine Eltern, die trotz ihrer emotionalen Distanz in meinem Leben körperlich anwesend waren und es im Falle meiner Mutter noch sind, wurden beide in den Jahren der Mobilmachung geboren. Ihre ersten Erinnerungen an das in der Welt sein fallen in den Krieg und die Nachkriegszeit des großen Schweigens.
Meine bürgerliche Herkunft ist keine des 19. Jahrhunderts. In väterlicher und mütterlicher Linie handelt es sich bei mir um Aufstiegsgeschichten des 20. Jahrhunderts, Karrieren, die in der Weimarer Republik begannen und durch das Dritte Reich gezeichnet wurden. Abgesehen von meinem Urgroßvater Hans-August, dem General beim Reichsarbeitsdienst, waren meine Vorfahren nur bedingt beteiligt oder wie der Uropa Christian Opfer der Gleichschaltung. Beide Großväter konnten, da sie unbelastet erschienen, gleich nach dem Krieg Karriere machen, nur Hans-August blieb in seinem Garten und trank Bommi mit Pflaume. Mir half das alles nicht. Jahrelang entschuldigte ich mich, selbst wenn jemand anders einen Fehler beging. Nun gab es auch eine andere Schuld als die Deutsche.
Irgendwann schenkte ich Jan Faserland zu Weihnachten. Nach dem Auspacken las er laut den Namen des Autors. Unser Vater wurde hellhörig. Kracht, wiederholte er, den kenne ich. Dann erzählte er ausführlich, was er wusste. Nicht, dass sie sich persönlich gekannt hätten. Kracht gehört zum Personal seiner Gedanken über die Gesellschaft und ihre Hackordnungen. Ich dachte, es handle sich um eine Verwechslung, da ich noch nicht wusste, dass es Christian Kracht Junior und Senior gab.
Heute scheint mir der Absturz des alten Kracht wie ein Archetyp der Hamburger Klassengesellschaft. In ihrer Mythologie führt jeder Aufstieg zu einem Fall. Wie ich geworden bin, lässt sich ohne diese Atmosphäre nicht verstehen. Es ist ein Klima stehender Werte und kühler Grausamkeit, damit das Geld in den Händen der gleichen Familien bleibt. Die hanseatische Domestizierung des Lebens zum Erhalt jahrhundertealter Klassenverhältnisse baut auf Sprache, keine, die gesprochen wird, sondern eine der Verträge. Ihre Fixierungen heben die Linien der Herkunft nicht auf, sie nehmen den aufbrechenden Widersprüchen durch ihre Harmonisierung die Kraft. Alles wird als klebriger Brei in der Fläche ausgebreitet, um die Gegebenheiten zu zementieren. Als Haltung bildet diese Sprache der Notariate den Gegenpol zu jener, die Lukas Bärfuss in seinem Buch Vaters Kiste zeichnet: „Sprache ist nicht Herkunft, sondern Gebrauch, und dieser Gebrauch erschafft die Welt, in der wir leben. … Jeder kann seine Geschichte erfinden. Man fürchtet sich vor dieser Einsicht, aber eigentlich ist es noch viel schlimmer.“
Die Schulden des Vaters, die Bärfuss ausschlägt, unterschieden sich von jenen, die ich mir von meiner Mutter schenken ließ, da ich sie damit überfordert glaubte und ihr einen weiteren Bankrott ersparen wollte. Dass ich diese Schenkung initiierte, war größenwahnsinnig und etwas lächerlich, da ich gar keine Ahnung hatte, wie das Drohende abzuwenden wäre.
Schulden zeichnen Portraits derer, die sie haben. Beim alten Bärfuss formen sie die Konsequenz aus Armut, Pech und der Unfähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben. Mein Vater verschuldete sich, da er an einer bestimmten Gesellschaft teilhaben und nur wahrhaben wollte, was ihm gefiel. Zu seiner Verteidigung möchte ich aber sagen, bei keiner der offenen Rechnungen, die ich vorfand, handelte es sich um Forderungen, für die zuvor jemand gearbeitet hatte. Weder gab es unbezahlte Löhne, noch Rechnungen von Handwerkern, Restaurants oder für andere Dienstleistungen. Es handelte sich ausschließlich um Forderungen von Banken, Steuern und Entnahmen. Für Banken ist die verzögerte Rückzahlung ein Geschäft. Auch der Staat zieht auf fällige Steuern Zinsen. Die Arbeit von anderen in Anspruch zu nehmen, sie aber nicht zu bezahlen, geht hingegen auf die miese Grundlage des Kapitalismus zurück, das Überleben derer, die nichts haben, auszubeuten. Während mich der Gedanke nervte, da mich gerade in eine unangenehme Situation brachte, verließ ich das Haus für die täglichen Erledigungen. Schon an der Ecke Große Bergstraße bemerkte ich, dass da etwas passiert war. Als ich mich näherte, zog ein Polizist ein langes gelbes Band um die Gehwegfläche vor dem Fitnesscenter. Überall standen erstarrte Passanten, manche hielten die Hände vor den Mund. Auf dem Pflaster lag einer auf dem Bauch. Genau in diesem Moment lüftete ein Beamter nochmal die grüne Folie, die über dem Kopf des Mannes lag und ihn als Toten markierte. Mein Körper zuckte zusammen und schloss die Augen, musste sie aber wieder öffnen, damit ich weitergehen konnte. Der Tote war, was seine Kleidung sofort erkennen ließ, arm und alt. Seine Haut wirkte unheimlich weiß. Dass er nicht einfach umgefallen war, sondern aus der sich über der Fußgängerzone in den Himmel streckenden Wohnmaschine gesprungen war, wurde mir erst klar, als ich von der Post zurückkehrte. Ein Feuerwehrmann schob mit einem Besen eine rötliche Mischung aus Straßenstaub, Blut und Lösungsmittel zusammen. Die Leiche hatte man schon weggebracht. In Notarztwagen wurden noch Passanten behandelt, die unter Schock standen. Mir wurde klar, dass ich Glück hatte, nicht schon einige Minuten früher gekommen zu sein.
Die Frau, die schon lange jeden Tag an der Stelle bettelt, wo der Körper gelegen hatte, sagte, das Geräusch des aufschlagenden Körpers, den Ton des Todes, nie vergessen. Und der Angestellte, der gerade aus der Tür getreten war, als es zum Aufschlag kam, kann sich nicht vorstellen, hier weiter zu arbeiten.
Am nächsten Tag sah mich der Tote mit weit aufgerissenen Augen ganzseitig von der ersten Seite der MOPO an. Der Artikel dazu trägt den Titel Der hässliche Tod des schönen Klaus. Der Mitbegründer der „Nutella-Bande“ verkörperte den strahlend modernen Zuhälter der siebziger und achtziger Jahre. Wie sehr er den großen Auftritt geliebt haben muss, davon berichten zahllose Bilder, auf denen er wie ein Star posiert. Berühmt wurde „Lamborghini-Klaus“, wie er auch genannt wurde, da er so viele Frauen für sich anschaffen ließ wie kein anderer Lude zuvor. Den namhaften Wagen kaufte er, da er nie wieder überholt werden wollte. Nach dem Mauerfall zog sich der schöne Klaus aus dem Geschäft zurück, entwickelte ein Alkoholproblem und malte in einer Gruppe auf St. Pauli Bilder, die bestenfalls aufgrund seiner Geschichte interessierten. Obwohl seine goldenen Jahre schon lange vorbei waren und er einer der vielen Trinkern im Elbschlosskeller wurde, blieb er eine Figur im Gedächtnis der Stadt. Zuletzt ging es ihm nicht gut, obwohl jener, den er einst verkörpert hatte, gerade in der Erfolgsserie Luden ein Comeback erlebte. Die TV-Produktion von Amazon Prime erzählt sein Leben als Karriere eines wortgewandten Selfmademan auf der Großen Freiheit, der sich nahm, wovon andere nur träumten.
Dem recycelten Rotlicht-Star aus einer längst vergangenen Welt wurden am Tag nach dem Sprung aus dem Fenster von der FAZ über den SPIEGEL bis zum ZDF umfassende Nachrufe gewidmet. Der Tod schien eine gute Story. Gerade in der Fülle liest sie sich die wiederholte Geschichte wie das Lob der Rücksichtslosen. Der Sprung, den keiner der Texte erwähnt, da der journalistische Kodex dazu auffordert, wegen der Nachahmer nicht genauer über Suizide zu berichten, wirkt als Auslöser der Texte wie das Nadelöhr zum letzten Auftritt von einem, der es liebte, gesehen zu werden.
„Jeder Selbstmörder befindet sich im Zustand von Stalingrad“, schreibt Hermann Burger. Jede Selbsttötung entspringt einer unausweichlichen Lage. Burger, wie Bärfuss gehen so weit zu behaupten, es wäre eher abwegig, sich nicht umzubringen.
An all das denke ich auf der Suche nach der eigenen Geschichte. In ihren Trümmern hat sich mein Bruder vor sechzehn Monaten das Leben genommen. Ich gehe weiter durch Ruinen. Zwischen dem Zerstörten sehe ich Gespenster von Nazis und Narzissten oder meine taumelnde Mutter, die die Erinnerung verliert. „Gegeben ist der Tod, bitte finden Sie die Lebensursache heraus.“, steht bei Hermann Burger. Trotz der Zwangsläufigkeit des Todes bleibt die Selbsttötung eine Explosion der Wut. Ich kann nur spekulieren, warum der schöne Klaus wütend war. Oder war er einfach nur müde.
Die angedeutete Selbsttötung am Ende von Faserland ist ein Zitat, in einer Umgebung, in der alles ein Zitat von etwas anderem zu sein scheint. Faserland lese ich wie die Formfindung von einem, der nicht wusste, wie er wütend sein sollte. Jan war sehr wütend. Ich konnte mit seiner Wut ab einem Punkt nicht mehr mitgehen. Wie der schöne Klaus war Jan ein Süchtiger. Narzissmus kann eine Ursache sein, um süchtig zu werden. Die laufende Beleidigung durch die Welt, die nicht erkennt, wie großartig man ist, kann so ausgehalten werden.