Meine Eltern hatten sich als Teenager auf der Eisbahn kennengelernt, verloren sich aber wieder aus den Augen. Ihre zweite Begegnung in einem Strandbad ganz im Norden von Deutschland wurde von meiner Mutter bei jeder möglichen Gelegenheit geschildert. Die Cousine hatte ihr erklärt, es wäre von Vorteil, wenn sie auf der Promenade Englisch sprechen, da Männer das anziehend finden. Etwas später kam mein Vater ins Spiel. Die beiden heirateten Mitte zwanzig, er sollte zuerst seine Ausbildung abschließen und eine Anstellung haben. Ein Jahr später kam ich auf die Welt. 1968 kauften sie das Reihenhaus am Rande von Hamburg, in dem meine Mutter bis heute lebt. Mein Vater betonte oft stolz, in all den Jahren ihrer Ehe, es sollten über fünfzig werden, jeden Abend in dieses Haus zurückgekehrt zu sein. Ich vermute, er war nicht ganz so treu, wie er es darstellte, aber relativ treu. Der Partnertausch gehörte im Freundeskreis meiner Eltern nach der sexuellen Revolution in den Siebzigern zu den Formen von Fortschritt, die ausprobiert wurden, wie Fernsehen in Farbe. Der beste Freund führte, um die Übersicht zu behalten, ein Buch über die Frauen, mit denen er schlief. Mein Vater äußerte sich mehrmals empört über den Umfang dieser Memoiren.
Als Kind verstand ich lange Zeit nicht wirklich, wie die Eltern es miteinander ausgehalten haben. So lange ich mich erinnern kann, hielt ich für meine Aufgabe, bei dem, was ich als den Egoismus meines Vaters und die Opferrolle meiner Mutter wahrnahm, ausgleichend aufzutreten. Erst nach Jahrzehnten verstand ich: Was meine Eltern verband, war eine ganz genaue, beinahe zwanghafte Vorstellung davon, wie die Welt auszusehen hat. Abweichungen vom eigenen Bild wurden nur unter Anstrengungen ertragen. Vieles von dem, was in ihrer Burg so zu sein hatte, betraf die Oberflächen, während die Vertiefung, besonders der Gefühle, als Türöffner zum Ärger galt.
Mittlerweile kann ich dieser Erziehung zum äußeren Auftreten einiges abgewinnen. Wäre ich nicht auf den Anschein und das Formale getrimmt, wäre ich vielleicht ein schrecklicher Grübler geworden. Die Aufmerksamkeit dafür, wie sich etwas zeigt, brachte mich auch in die zeitgenössische Kunst. Ihr Umgang mit der Anmutung ist in Gefahr, wie eine Vase am Rande des Tisches, die im nächsten Moment fallen könnte. Da alles gefährdet bleibt, wird manches aus dem Nichts ganz groß und verliert genauso schnell seine Bedeutung. Genauer gesagt, schiebt es sich aus Aufmerksamkeit, da Bedeutungen in der Kunst eine nachgeordnete Rolle spielen und es eine Faszination für das Unbedeutende wie Bedeutungslose gibt. Mich ziehen diese Blasen bis heute an, da sie eine Wirklichkeit neben der Wirklichkeit bilden. Die Schwerkraft einer gesicherten Normalität holt die instabilen Situationen nicht selten in Form des Geldes ab. Eine der Herausforderungen, die Spannung des Prekären zu wahren, aber auch auszuhalten, liegt darin, die Schwerkraft des Geldes temporär zu verleugnen.
Gerade holt mich die profane Wirklichkeit des Monetären aber ein und der Fluss Worte gerät ins Stocken. Um die Bremsung zu verstehen, lasse ich alles Revue passieren. Bis zu dem Anruf hatte ich ihn kaum gekannt. Im Kunstbetrieb, einem Dorf mit vielen Durchreisenden, waren wir uns mehrmals begegnet und haben miteinander gesprochen. Ich dachte, er ähnelt meiner Mutter ein wenig in ihrer förmlichen Art. Auch der starke Bezug auf sich selbst zeichnete sich in den ersten Begegnungen ab. Jede seiner Bewegungen analysierte er auf den Eindruck, den sie hinterlassen könnte. Das ist im Kunstbetrieb nichts Ungewöhnliches, wirkt dieser doch wie ein Wald, in dem alle Bäume in einer bestimmten Art gesehen werden wollen. Einige sind damit noch mehr befasst, als andere. Manchmal denke ich, das Gedränge ist geeigneter für jene, die mit dem Gefühl groß wurden, für jedes Bäuerchen, was ihnen entsteigt, bejubelt zu werden. Für jene, die nicht wissen, ob sie überhaupt gesehen werden, kann es hingegen anstrengend werden. Aber stimmt das überhaupt? Leiden nicht gerade die vom Blick Verwöhnten schon beim geringsten Entzug, während jene, die es gewohnt sind, dass kaum nach ihnen geschaut wird, nicht die Ruhe verlieren, wenn der Blick mal ausbleibt.
Vielleicht hätte ich auf manches mehr achten sollen, aber die Möglichkeit interessierte mich, da sie vielversprechend klang und sicher war meine Eitelkeit geschmeichelt, gefragt zu werden. Dass ich mich entschieden habe, es zu tun, bereue ich nicht im Geringsten, es war ein Glücksfall und der Anstoß, über Schuld und Schulden zu schreiben. Bald fiel mir auf, wie verwandt Inhalt und Mittel einander sind, da die Sprache ein Gewebe aus Forderungen und Verbindlichkeiten bildet. In manchen Momenten erscheint mir der Text auch als Gläubiger, in dessen Schuld ich stehe. Schreiben hat in einer Sprache, die ich nur auf Kredit bekomme, den Charakter einer Geschäftsbeziehung. Sie findet in einer anderen Währung statt, die aber gegen Geld getauscht werden kann.
Er sprach bereits im ersten Gespräch davon, dass ich bezahlt werden sollte. Wie viel ich bekommen sollte, erfuhr ich erst Wochen später auf Nachfrage. Es klingt kleinlich, das anzumerken, doch wenn man freiberuflich schreibt, ist es bei vierzig und mehr Anfragen im Jahr nicht angenehm, immer wieder nach der Bezahlung fragen zu müssen. Angestellte würden die Höhe ihres Lohnes auch nicht alle vierzehn Tage aushandeln wollen. Diesmal sollten es je Euro 500 für zwölf Texte sein. Das klang für das Schreiben in der Kunst gut, auch wenn mir klar war, so wie ich schrieb, würde ich unter dem gesetzlichen Mindestlohn bleiben. Die Nachkalkulation bestätigte später meine Überschlagsrechnung. Was ich bisher geschrieben habe, kommt auf knapp 100 Manuskriptseiten. Das heißt, ich hätte Euro 50 pro Seite erhalten. Nach dem Thomas Mann-Ansatz wird eine Seite pro Tag geschrieben, geteilt durch acht Stunden komme ich auf Euro 6,25 pro Stunde.
Am Honorar möchte ich nichts beanstanden. In diesem Fall hatte ich neben der Wahl der Inhalte auch das Angebot, nur ein Wort pro Folge zu schreiben, womit mir sogar freigestellt war, einfach nur ein schnelles Geschäft zu machen. Die Übererfüllung, die ich stattdessen wählte, war meine Entscheidung. Das Szenario erschien als großes Versprechen. Heiter begann ich zu schreiben, wenn auch dunkles Zeug. Warum der Text in die Dunkelheit fuhr, weiß ich nicht so genau. Es ergab sich. Und während der Zug der Worte durch den Tunnel schlich, nahm ich an, er oder eine seiner Mitarbeiterinnen würde mich auf den Modus der Bezahlung ansprechen. Nichts geschah. Es fiel mir zuerst gar nicht auf, da ich beschäftigt war. Wer schreibt, liefert sich aus und wird verletzlich. Etwas ungeschützt saß ich nach drei Monaten da, aber ich hatte mich für den Mut zur Peinlichkeit entschieden, ohne dass jemand es von mir verlangt hätte. Und noch für etwas anderes konnte ich niemand anders zur Verantwortung ziehen, außer die Hypothek der Familie.
In den vierunddreißig Jahren, in denen ich mal mehr, mal weniger Texte veröffentliche, habe ich kein stabiles Selbstbewusstsein zu meinem Tun gefunden. Wenn ich mal dachte, da hast du was richtig Gutes geschrieben, entpuppte es sich als lauer Aufguss oder manchmal als mieser Text. Gab ich hingegen aufgrund von Zeitdruck, Faulheit oder was auch immer beschämt etwas ab, das mir ziemlich ungenügend erschien, handelte es sich gelegentlich genau um jene Texte, die anderen besonders hilfreich erschienen. Manchmal beneide ich jene Professionellen, von denen ich mir vorstelle, sie wüssten genau, was sie tun. Letztlich suche ich aber die Verunsicherung, sie gehört zum Spiel, wie der harte Hocker in einem Raum, der etwas zu kühl ist, damit es nicht zu gemütlich wird. Das mag protestantisch klingen und kommt sicher zum Teil von dort, hat sich aber bewährt. Jetzt wurde die Unsicherheit aber zum Problem. Ich fragte mich, ob das, was ich geschrieben hatte, so mies wäre, dass man mich nicht bezahlen konnte? Als nach fünf Monaten aufgrund der ausbleibenden Zahlung das Loch in der Haushaltskasse größer wurde, sonstige Kosten fielen nicht, fasste ich mir ein Herz und schrieb eine Email, um zu fragen, wie es eigentlich mit meiner Bezahlung aussehen würde. Keine Antwort. Zweieinhalb Wochen später rief ich an und fragte, ob er meine Nachricht nicht bekommen hätte? Nein, er hätte nichts erhalten. Ich dachte, wie selten Nachrichten verloren gehen, aber manche tun es vielleicht doch.
Nach dem Telefonat schickte mir die Mitarbeiterin in der Vorweihnachtszeit eine Vorlage, mit der ich Rechnungen stellen konnte, was ich tat. Da er mir im Verlauf des Telefonats einen aktuellen Liquiditätsengpass geschildert hatte, räumte ich ihm einen Monat Zeit ein.
Als der Verstrichen war und ich einen weiteren gewartet hatte, fragte ich, da nichts passierte, also kein Geldeingang sichtbar wurde, wiederum nach. Von der Mitarbeiterin wurde mir mitgeteilt, der Chef sei längere Zeit auf Reisen, gerade auf einer Messe in Los Angeles und anschließend auf der in Madrid. Das klemmende Geld reichte also noch für hochpreisige Handelsplätze, die im Voraus Bezahlung verlangen. Nun konnte ich mir denken, ein Unternehmer muss investieren und über seine Verhältnisse leben, das kannte ich von zuhause. Ging das Geld aus, holte man sich schnell einen Maßanzug, damit es weitergeht. Die Kundschaft achtet auf den prosperierenden Auftritt.
Mittlerweile kamen mir Gerüchte über die “professionelle Unzuverlässigkeit” zu Ohren gekommen. Nun wird viel geredet, wenn der Tag lang ist. “Professionalität” interessiert mich auch nicht so sehr, da es mir oft wie ein anderes Wort für abgeklärte Langeweile ist. Das Geld war nur ein Aspekt. Wichtiger schien, das Ganze hatte mich in ein Schreibabenteuer gestürzt, das seine eigenen Forderungen und Verbindlichkeiten mit sich brachte. Ich stand im Soll des Textes und wollte wegen des schnöden Habens von Liquidität die Reise nicht abbrechen. Schreiben beinhaltet, sich zu verausgaben, wenn ich da rechne, entfällt das Abenteuer, Sätze zu schreiben, die ich nicht erwarte. Obwohl ich auf den Text setzte, wurde der innere Dialog mit dem monetären Schuldner langsam lauter. Mal dachte ich, er verdient ja kein Geld mit mir, meine Texte sind doch gerade mal kulturelles Kapital, da gibt es in klammen Zeiten andere Prioritäten. Dann entwickelte ich Anwandlungen wie mein Vater, der kein Restaurant besuchen konnte, ohne die Gehälter des Personals, mit der geschätzten Miete der Lokalität zu addieren, um die durch den Einkauf ergänzten Betriebskosten gegen den überschlagenen Umsatz zu stellen, um zu bestimmen, das rechnet sich oder eben nicht. Mir ist es bis heute nicht gelungen, diese Prägung zum Pfeffersack und jener hanseatischen Welt abzulegen, in der Multimillionäre ihre Wollpullover bis zum letzten Mottenloch tragen, damit sie sich vorstellen können, wie aus den länger abgeschriebenen Pullovern über Jahrhunderte ein Frachtschiff wird. Da ich mehr Donald als Dagobert bin, dachte ich: Meine Miete habe ich immer pünktlich bezahlt, also kann ich sie jetzt mal aussetzen. Mein Vermieter sah das anders. So kam ich nicht weiter. Die Monate verstrichen, schreibend erhöhte ich die Forderungen und es wurde Frühling. Als nach der Abgabe von Teil 9 noch kein Cent bei mir angekommen war, erhielt ich einen Newsletter, der Garten der Galerie sei gerade von meiner Lieblingsgartenkünstlerin neu gestaltet worden. Postwendend fragte ich nach, was mit meinen Rechnungen sei. Er antwortete innerhalb von Sekunden, nichts sei, wie es schiene, die finanzielle Lage der Galerie bliebe angespannt und fügte hinzu: Ich sollte auf keinen Fall denken, er wolle mich für dumm verkaufen. Wieder ging es darum, wie er gesehen wurde und nicht um meine Miete. Die Nachricht endete damit, er könnte jetzt tausend Euro bezahlen, was er auch tat, obwohl ich geantwortet hatte, ein Abschlag interessiere mich nicht. Die angefügte Zusage, den Rest an offenen Rechnungen bis Ende des Monats zu überweisen, zerschlug sich anscheinend, jedenfalls floss kein weiteres Geld. Freunde von mir erhielten in der gleichen Woche Einladungen zu einem Abendessen der Galerie in einem coolen Club. Ich wurde nicht eingeladen. Da mich Essen nun wirklich interessiert, begann die Angelegenheit an mir zu nagen. Die Stimmung kippte, aber was tun?
Als ich mir eine Ausstellung in der Galerie ansah, taten wir so, als ob nichts sei. Man ist höflich und oft steht doch gerade jemand daneben. Im Kunstbetrieb sind alle nicht nur beim Du, sondern sowieso best friends. Er war nicht meiner, doch wer haut schon gerne auf den Tisch im Wissen um die Probleme des Gegenübers. Es gefiel mir nicht, zum Gläubiger geworden zu sein, einem, der daran glauben musste, der Schuldner würde ihn in der Zukunft bezahlen. War das alles absehbar gewesen? Rückblickend fiel mir auf, wie oft er sich bei unseren ersten Gesprächen bei mir entschuldigt hatte, wenn es nur darum ging, dass er spät antwortete.
Die Schulden des anderen können für den Gläubiger zur Belastung werden, nicht allein, da Liquidität fehlt, Schuldgefühle übertragen sich und beginnen, das eigene Denken zu besetzen. Auch darum verleihe ich ungern Geld. Trotzdem habe ich es gelegentlich getan, meist aus Notlagen im direkten Umfeld, dem Konto, das geschlossen werden sollte, oder der Wohnung, aus der jemand zu fliegen droht. Die Notlage der anderen erschien als Verpflichtung, mochte mir mich kruder Umgang mit Geld auch irritieren. Ich halte mich für einen geduldigen Gläubiger, selbst wenn ich gern ungeduldig wäre. Die Umstände haben mich dazu gemacht. Ein jahrzehntelanger Umgang mit psychisch kranken Angehörigen, der verlangt, sie zu erdulden und erzieht zu großem Langmut. Die eigenen Forderungen werden hinten angestellt. Dadurch wird man für die anderen etwas ungreifbar, aber es gibt schlimmere Beschädigungen.
Ein Traum erinnerte mich heute an meine dunkelsten Erfahrungen in der Rolle des Gläubigers. Einer Freundin borgte ich gelegentlich Geld, da sie sich nichts mehr zu Essen kaufen konnte. Meine kleinen Darlehen, die sie auf keinen Fall geschenkt bekommen wollte, beschämten sie so, dass sie ab dem Moment, an dem ich es ihr in die Hand drückte – meist ging es um einhundert Euro – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihn zurückzahlen konnte, jeden Kontakt mit mir abbrach. Sie ging dann nicht mehr ans Telefon und war wie vom Erdboden verschluckt, bis sie mich anrief, um einen Ort für die Rückgabe des Geldes zu vereinbaren. Als ich ihr das letzte Mal Geld lieh, obwohl ich nicht wollte, schien es normal, dass sie einige Wochen verschwunden blieb, bis ihr Anruf kam, sie könnte mir das Geld zurückgeben. Nichts blieb normal. Sie rief nicht an, eine andere Stimme sagte, sie habe tot in ihrer Wohnung gelegen. Sie lag dort schon länger, entsetzlich lange. Es war ein epileptischer Anfall. Ob sie ihr Medikament nicht mehr nehmen konnte oder es nicht wollte, weil sie müde war von dieser Krankheit, die sich ungünstig mit anderen Krankheiten verband, wie Lebensumstände, die sie in vielem auf der Stelle treten ließen, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Es gab in ihrer Wohnung einen Abschiedsbrief, der war aber ein halbes Jahr zuvor geschrieben worden. Danach habe ich lange niemandem Geld geliehen. Die entsetzliche Erfahrung, wie getrennt wir in dieser Gesellschaft lebe oder wie entfernt ich von den anderen bin, da ich nicht mehr dagegen angehe, verfolgten mich über Jahre. Immer wieder stellte ich mir die Situation in der Wohnung vor, detailliert, bis in das Licht und die Frage, ob es eine Entscheidung gab. Als einziges Erbstück besitze ich einen kleinen Aschenbecher aus rotem Emaille von ihr, der mich seitdem täglich auf meinem Schreibtisch begleitet. Zigaretten erinnern einen daran, endlich zu sein, der Aschenbecher gibt dem noch einen Beigeschmack. In den dreizehn Jahren, in denen er mich begleitet, fiel er öfter runter, blieb aber immer ganz, fast so, als ob er beweisen wollte, wie unzerstörbar die Endlichkeit ist.
Nach dem Traum hätte ich das ausstehende Honorar am liebsten in den Wind geschossen. Überhaupt wünsche ich mir oft, gleichgültig mit Geld umzugehen. In dieser Situation schien der Schuldenschnitt aber unangemessen.